Das Politpodium zum Nachschauen und Nachhören
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«Das Gesundheitswesen wird teurer, die Krankenkassenprämien steigen und steigen», damit führt die Moderatorin Rebekka Flotron (28) in das Podiumsgespräch «Weg mit der Pflästerlipolitik: Ist die Einheitskrankenkasse die Lösung?», das am 17. Januar 2024 120 Menschen in das Bistro des Gymnasiums Thun-Schadau zieht.
Ihre Gäste sind Michelle Beyeler, Politikwissenschaftlerin an der Universität Zürich und der Berner Fachhochschule und Expertin für Sozialpolitik, Sybil Eigenmann, Grossrätin Die Mitte mit Einsitz in der Gesundheits- und Sozialkommission, Stephanie Gartenmann, Mitglied der Geschäftsleitung der Jungen SVP Schweiz und Rechtswissenschaftsstudentin an der Universität Bern, sowie Felix Wettstein, Nationalrat DIE GRÜNEN aus Solothurn und Präsident des Vereins pro salute Schweiz.
In der Schweiz ist es obligatorisch, eine Grundkrankenversicherung zu haben. Dies wurde 1994 bei der letzten Gesamtreform des Krankenversicherungsgesetzes gesetzlich geregelt. Die Finanzierung dieser Grundversicherung möchte das Podiumsgespräch «Weg mit der Pflästerlipolitik: Ist die Einheitskrankenkasse die Lösung?» zur Diskussion stellen.
«Ja, das ist absurd.»
Aktuell können Versicherte in der Schweiz aus mehr als 50 Krankenkassenanbietern auswählen. «Das ist doch absurd, oder?», fragt die Moderatorin ihre Gäste und provoziert damit gleich zu Beginn eine Einigkeit zwischen diesen Gästen, die doch eigentlich aus komplett unterschiedlichen Lagern kommen: «Ja, das ist absurd.»
Zunehmend prekär
Im Jahr 2023 sind die Krankenkassenprämien, also das, was eine versicherte Person monatlich einzahlt, um 6,6 Prozent gestiegen. Im Jahr 2024 steigen sie sogar um 8,7 Prozent. «Das sind bis zu 80 Franken, die eine vierköpfige Familie pro Monat mehr ausgeben muss», verdeutlicht die Moderatorin Rebekka Flotron diese abstrakten Zahlen. Das ist zunehmend belastend. Wie Felix Wettstein erwähnt, zeigt der Sorgenbarometer, der jährlich von gfs.bern erhoben wird, dass die Krankenkassen an oberster Stelle stehen – der Schweizer Bevölkerung also aktuell die grössten Sorgen bereiten. Und repräsentative Umfragen zeigen: Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung erwartet Reformen.
Der offensichtlichste Grund für diesen Anstieg ist wohl, dass das gesamte Gesundheitswesen teurer wurde. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 betrugen die Gesundheitskosten in der Schweiz noch ungefähr 83 Milliarden. Im Jahr 2023 wird prognostiziert, dass sie auf 92 Milliarden angestiegen sind.
Warum?
Die Podiumsgäste nennen verschiedene Gründe: Felix Wettstein sieht ein Problem in der fehlenden Investition der Krankenkassen in Prävention. So finanzieren zum Beispiel Grundversicherungen keine Angebote, die Gesundheitsschäden vorbeugen würden – dies wird heute nur über die Zusatzversicherung ermöglicht. Für Stephanie Gartenmann fehlen die Anreize zu sparen. Zum Beispiel: Ein Arzt profitiert nicht davon, ein Generikum statt das Originalmedikament zu verschreiben, obwohl Generika das Gesundheitswesen finanziell natürlich weniger belasten würden. Sibyl Eigenmann spricht die Überalterung an: Seit 1950 werden Menschen in der Schweiz durchschnittlich 15 Jahre älter. So verursacht eine Einzelperson natürlich länger Kosten für die Gesamtbevölkerung. Stephanie Gartenmann ergänzt: «Und das geht auf Kosten junger Familien, auf Kosten meiner Generation.»
«Und das geht auf Kosten junger Familien, auf Kosten meiner Generation.»
Stephanie Gartenmann
Etwas relativiert wird die Bedeutung der Überalterung für die zunehmenden Gesundheitskosten von Felix Wettstein. Er bezieht sich auf eine Studie, die vor 20 Jahren von dem Soziologen François Höpfliger (u. a.) veröffentlicht wurde: «Er konnte zeigen, dass wir zwar älter werden, aber die Dauer, in der wir behandlungsbedürftig sind, wird eher kürzer.»
«Wir werden zwar älter, aber die Dauer, in der wir behandlungsbedürftig sind, wird eher kürzer.»
Felix Wettstein
Michelle Beyeler spricht in diesem Zusammenhang einen wichtigen Punkt an: «Wir möchten immer länger leben, immer bessere Behandlungen – das ist natürlich teurer.» Sie bringt ein konkretes Beispiel: «Soll man das Knie einer 86-jährigen Frau wirklich noch operieren?» Die Frage ist herausfordernd, denn sie spricht einen ethischen Aspekt an: Wie teuer darf Lebensqualität sein? «Bei dieser Diskussion sind wir noch nicht so weit», meint sie abschliessend, «aber es ist eine Diskussion, die wir als Gesellschaft führen sollten.»
«Wir möchten immer länger leben, immer bessere Behandlungen – das ist natürlich teurer.»
Michelle Beyeler
Werbung, die nervt
Im Jahr 2022 gaben Krankenkassen rund 100 Millionen für Werbung aus. In diesem Punkt sind sich die Podiumsgäste mehrheitlich einig: Das nervt und verursacht unnötige Mehrkosten für die Prämienzahlerinnen – denn auch dafür, und nicht nur für Behandlungskosten, zahlen sie Geld ein.
Und wie lösen wir es?
Im Herbst 2023 veröffentlichten Demoscope und watson eine repräsentative Umfrage, die zeigt, dass sich aktuell 63 Prozent der Schweizer Bevölkerung für eine sogenannte Einheitskasse aussprechen. Noch klarere Resultate produzierte eine Studie der Universität Basel, die in der zweiten Januarwoche 2024 erschienen ist: 68 Prozent der Bevölkerung befürworten eine Einheitskrankenkasse.
Die Einführung einer Einheitskrankenkasse würde bedeuten, dass alle Menschen in der Schweiz bei einer einzigen, vom Staat verwalteten Versicherung, grundversichert wären. Die Hoffnung wäre, dass durch eine Einheitskrankenkasse die Prämienzahlerinnen entlastet werden könnten: Verwaltungskosten würden weniger hoch anfallen, die Koordination mit den Dienstleistern wäre einfacher, was ebenfalls Kosten sparen würde und es müsste kein Geld für Werbung ausgegeben werden.
Doch wie stehen die Podiumsgäste zu diesem Lösungsvorschlag?
«Einen Anbieter für die Grundversicherung würde eigentlich reichen. Der Wettbewerb kann bei den Zusatzversicherungen stattfinden.»
Michelle Beyeler
«Die Gesamtkosten würde eine Einheitskasse vermutlich nicht entlasten», sagt Felix Wettstein. Dennoch gibt es viele Gründe, wie er ergänzt, warum eine Einheitskasse eingeführt werden sollte.
Konkret sieht er das Problem nämlich auch darin, dass Versicherungen sowohl nicht-gewinnorientierte Grundversicherungen wie auch gewinnorientierte Zusatzversicherungen anbieten dürfen: «Die Versicherungen machen nicht Werbung, um Kundinnen für die Grundversicherung zu gewinnen, sondern für die Zusatzversicherung – nur damit verdienen sie Geld.» Wenn das getrennt werden würde, so Felix Wettstein weiter, wären die 50 Grundversicherungen, die es heute gibt, gar nicht mehr nötig. Auch Michelle Beyeler, die sich zwar weder für noch gegen eine Einheitskrankenkasse ausspricht, stimmt dem zu: «Einen Anbieter für die Grundversicherung würde eigentlich reichen. Der Wettbewerb kann bei den Zusatzversicherungen stattfinden.»
Auf Platz 1: Einkommensabhängige Grundversicherung
Für Felix Wettstein ist die Einheitskrankenkasse nur auf Platz 3 der wünschenswerten Reformen. Auf Platz 1 steht die sogenannte einkommensabhängige Grundversicherung. Anstelle eines Kopfprämiensystems – also einer Prämie pro Person – plädiert er für eine Prämie nach Einkommen. Menschen mit einem höheren Einkommen würden also mehr bezahlen als Menschen mit einem niedrigeren Einkommen. Das sei solidarisch, sagt er. Sibyl Eigenmann und Michelle Beyeler weisen in diesem Zusammenhang und entgegen des Vorschlags von Felix Wettstein, auf die Prämienverbilligung hin, die Versicherte bis zu einem bestimmten Einkommen erhalten, die über die Steuern, die einkommensabhängig sind, finanziert wird.
Sibyl Eigenmann spricht sich, sogar entgegen dem Votum ihrer Partei Die Mitte, ebenfalls für eine Einheitskrankenkasse aus: «Man hat damals [1994] gesagt, das war politisch so gewollt, man möchte ein bisschen Wettbewerb, aber die Leistungen sollen bei allen gleich sein. Heute sieht man: Das ist nicht das Gelbe vom Ei.»
«Man möchte ein bisschen Wettbewerb, aber die Leistungen sollen bei allen gleich sein. Heute sieht man: Das ist nicht das Gelbe vom Ei.»
Sibyl Eigenmann
Kostenbremse-Initiative
Sibyl Eigenmann stellt zugleich noch die Initiative ihrer Partei vor, die vorsieht, dass die Prämienkosten nicht mehr als 10 Prozent des Einkommens einer Person oder Familie ausmachen dürfen. Die Initiative kommt im Juni 2024 vor das Volk. Für Felix Wettstein und auch Stephanie Gartenmann ist diese Initiative nicht umsetzbar. «Sie klingt einfach nur gut», sagt Felix Wettstein dazu.
Eine Budget-Krankenkasse
Stephanie Gartenmann sieht in der Einheitskrankenkasse nicht die Lösung für die Finanzierungsprobleme, die unser Gesundheitswesen aktuell plagen. Für sie müsste der Leistungskatalog radikal überarbeitet werden. Die Grundversicherung würde dann nur die wirklich nötigen Behandlungen decken, alles andere könnten sich Versicherte in «Eigenverantwortung», wie Stephanie Gartenmann das ausdrückt, über die Zusatzversicherung finanzieren lassen. Diese Idee entspricht dem Vorschlag «Budget-Krankenkasse» der FDP. Für die anderen Podiumsteilnehmer:innen ist klar: Ein solches System würde die ärmsten, die oft mit den meisten gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben, noch stärker benachteiligen.
Komplett überzeugt von der Einheitskrankenkasse ist also niemand, aber auch die anderen Reformvorschläge – die einkommensabhängige Grundversicherung, die Kostenbremse-Initiative, die Budget-Krankenkasse – finden nicht sehr grossen Anklang. «Es ist halt einfach nicht so einfach», sagt Sibyl Eigenmann gegen Ende der Diskussion und trifft es damit wohl auf den Punkt.
Das Gesundheitswesen im Jahr 2050?
Zum Abschluss fragt die Moderatorin ihre Gäste: «Wir leben im Jahr 2050, das ideale System für die Finanzierung des Gesundheitswesens wurde eingeführt. Wie sieht das aus?»
Michelle Beyeler:
«Wir haben ein Versorgungssystem, das sich an der Qualität und nicht an der Quantität orientiert und das eine Aufwertung hat, für alle Menschen, die Pflegearbeit machen.»
Sibyl Eigenmann:
«Wir haben eine gute Qualität und alle Menschen in der Schweiz können mit gutem finanziellen Gewissen zum Arzt gehen, wenn es nötig ist.»
Stephanie Gartenmann:
«Der gesunde Mensch steht im Zentrum. Wir haben ein System, in dem wir eigenverantwortlich handeln und selbst entscheiden können.»
Felix Wettstein:
«Wir haben über die Schweiz verteilte kleine Gesundheitszentren, in denen verschiedene Menschen miteinander arbeiten – Ärzt:innen, Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen et cetera – und das für ungefähr 10‘000 Menschen zuständig ist. Alle haben einen fixen Lohn. Und die, die es schaffen, dass diese 10‘000 Menschen möglichst gesund sind, müssen am wenigsten lange arbeiten.»
Politpodien von UND: Brisant, kontrovers und fair
Regelmässig lanciert UND Generationentandem Politpodien zu Abstimmungen oder anderen aktuellen politischen Themen. Mit diesen Politpodien fördert UND Generationentandem nicht nur aktiv die politische Bildung, sondern trägt auch zur freien Meinungsbildung der Generationen bei. PolitikerInnen und ExpertInnen aus den verschiedensten Bereichen treffen aufeinander – moderiert und organisiert durch freiwillig Engagierte des Vereins. «So fördern wir den Dialog der Generationen zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen», erklärt der Initiant und Geschäftsleiter von UND Generationentandem, Elias Rüegsegger.
Partizipativ, digital und innovativ – so lassen sich die Podien beschreiben: Das Publikum bringt sich via Mentimeter in die Diskussion mit ein. Via Livestream können ZuschauerInnen aus der ganzen Welt teilhaben. Die Podien stehen später als Video- und Audiopodcast auf den verschiedenen Plattformen zum Nachhören bereit.