Politpodium zum Nachschauen und Nachhören
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Etwas kompliziert, ein bisschen anstrengend und nicht so sexy, beschreibt Moderator Elias Rüegsegger (28) die Politik bei der Begrüssung zum Politpodium «Politik ohne Volk?», das am 26. April im FrachtRaum Thun stattfand. Könnte dies möglicherweise die niedrige Wahl- und Stimmbeteiligung in vielen Gemeinden und Kantonen erklären?

In Thun wurden die fünf Gemeinderäte und 40 Stadträte von knapp 33 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. UND Generationentandem schlüsselte diese Statistik noch weiter auf und fand heraus: Die Wahlbeteiligung scheint mit zunehmendem Alter stark anzusteigen. Die jüngste Altersgruppe (18-29 Jahre) hat mit 20.56 Prozent die geringste Wahlbeteiligung, während die älteste Altersgruppe (60-109 Jahre) mit 44.48 Prozent die höchste Wahlbeteiligung aufweist.

Elias Rüegsegger fragt seine Gäste: «Enttäuschen euch diese Zahlen nicht ein bisschen?» Und natürlich stimmen alle zu: Ja, es wäre schön, wenn die Wahlbeteiligung höher wäre – insbesondere auch bei den jüngeren Generationen.
Zufrieden, überfordert oder resigniert?
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Wahl- und Stimmberechtigte nicht wählen und abstimmen. Thuner Stadtpräsident Raphael Lanz (54) bringt die Zufriedenheitsthese ein, die besagt, dass ein Teil der Bevölkerung nicht wählt und abstimmt, weil sie zufrieden sind mit der Politik. Giada Gianola (32), Politikwissenschaftlerin am IPW der Universität Bern, bestätigt diese These und verweist auf Umfragen, die zeigen, dass zwischen 50 und 70 Prozent der wahl- und stimmabstinenten Bevölkerung aufgrund allgemeiner Zufriedenheit oder einem grundsätzlichen Desinteresse an der Politik nicht an die Urne gehen.

Niemand auf dem Podium widerspricht dieser Zufriedenheitsthese, doch allen scheint auch klar zu sein, dass der Sachverhalt etwas komplexer ist. So erläutert Marina Stalder (29), Produzentin bei easyvote.ch, dass viele Wahl- und Stimmberechtigte insbesondere beim Wählen überfordert sind: die Wahlunterlagen sind unübersichtlich, das Wahlverfahren zu kompliziert, viele wissen nicht, was Stadt- und Gemeinderäte überhaupt machen. Es brauche deshalb vielfältige Informationskampagnen, denn auch die Wahl- und Stimmberechtigten haben vielfältige Informationsbedürfnisse.

Auf die tiefe Wahl- und Stimmbeteiligung von jungen Menschen angesprochen, erklärt Marina Stalder, dass sich junge Menschen insbesondere bei Wahlen und Abstimmungen nicht gehört fühlen. Das sei frustrierend für die Jugend, insbesondere weil das Interesse an der Politik bei mehr als 50 Prozent der jungen Menschen in der Schweiz eigentlich sehr gros wäre – das zeigt eine Studie des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente.
«Die tiefe Wahl- und Stimmbeteiligung bei den jüngeren Generationen hat auch damit zu tun», ergänzt Sebastian Rüthy (28), Mitglied des Grossen Gemeinderates Steffisburg, «dass zum Beispiel in Thun die jüngeren Generationen eine bedeutend schwächere Wahlkraft als die älteren Generationen. Das führt zu Resignation bei den jüngeren WählerInnen.» Von den 18-29-jährigen sind 4845 Menschen wahl- und stimmberechtigt, von den 60-109-jährigen sind 14034 Menschen wahl- und stimmberechtigt.
Wer mobilisiert?
Die Stadt Thun fokussiert sich aktuell mit Kampagnen auf den sozialen Medien, mit einer breiteren Bewerbung des Jugendvorstosses und der Etablierung eines Jugendparlaments insbesondere darauf, junge Wahl- und Stimmberechtigte zu mobilisieren. Raphael Lanz lobt dieses Engagement seiner Verwaltung, betont aber auch, dass es nicht die Aufgabe der Stadt sei, die allgemeine Bevölkerung zum Wählen und Abstimmen zu mobilisieren.
Ein bisschen anders sehen das die LokalpolitikerInnen. Sie sind überzeugt, dass die Stadt mit einfachen Mitteln viel mobilisieren könnte. Das Stichwort «vorfrankierter Wahl- und Abstimmungscouverts» fällt mehrmals.

Demokratie in Gefahr?
«Ist eine tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung eine Gefahr für die Demokratie?», fragt Elias Rüegsegger seine Gäste im Rahmen einer Kurzfragerunde. Nur Angelika Zimmermann, die für «Die Mitte» politisiert, ist sich sicher: Eine tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung gefährdet die Repräsentation und damit auch die Demokratie, sie stellt auch die Legitimität gewählter VertreterInnen und politischen Entscheidungen in Frage.

Grundsätzlich scheinen die PodiumsteilnehmerInnen aber kaum besorgt, dass die aktuelle tiefe Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz die Qualität der Demokratie gefährdet.
Pflaster auf einer Schusswunde?
Einfachere Wahl- und Abstimmungsunterlagen, bessere Kommunikation über die sozialen Medien, Wahl- und Abstimmungscouvert vorfrankieren: die PodiumsteilnehmerInnen bringen einige Vorschläge ein, wie die Wahlbeteiligung erhöht werden könnte. Doch die meisten Ansätze wirken wie ein Pflaster auf einer Schusswunde – oberflächliche, kurfristige Lösungsansätze, die das Grundproblem nicht lösen.

Der innovativste Ansatz erläutert Christoph Auer: eine Vetorecht für jüngere Menschen, vorgeschlagen von Professor für Nachhaltigkeit Peter Knöpfel, der an der Universität Lausanne lehrt. «Ein politischer Entscheid, der heute getroffen wird, betrifft die jüngeren Generationen viel mehr als die älteren Generationen, ihre Stimme sollte deshalb mehr Gewicht haben», erklärt Christoph Auer die Argumentation von Peter Knöpfel. Konkret würde ein zusätzliches Mehr eingeführt werden – das Mehr der U45-jährigen. Eine Vorlage würde also nur angenommen wenn die Stände, das Volk und die U45-jährigen Stimmberechtigten JA! sagen.
Ein drittes Mehr würde den Generationen mit den tiefsten Beteiligungsraten, die sich, wie eine Studie des Dachverband Schweizer Jugendparlamente zeigt, nicht gehört fühlen und deshalb oft auf das Abstimmen und Wählen verzichten, zusätzliche Anerkennung geben und potenziell die Wahlbeteiligung insbesondere bei diesen Generationen positiv beeinflussen.

Bei den Lokalpolitikerinnen stiess dieser Ansatz nicht auf Begeisterung. «Damit kann ich gar nichts anfangen», sagt Angelika Zimmermann. «Der Wert einer Stimme darf nicht angerührt werden.» SVP-Politikerin Sabrina Pilss ergänzt: «Ein solche Vetorecht für die Jungen könnte dazu führen, dass dafür ältere Menschen nicht mehr wählen und abstimmen gehen, da ihre Stimme weniger Gewicht hätte.»
«Der Wert einer Stimme darf nicht angerührt werden.»
Angelika Zimmermann
In diesem Rahmen scheint es wichtig anzumerken, dass schon jetzt nicht alle Stimmen in der Schweiz gleich viel «wert» sind – zumindest nicht auf nationaler Ebene. So hat zum Beispiel die Stimme von UrnerInnen, aufgrund der Grösse des Kantons, ungefähr 35-mal mehr Gewicht als die Stimme von ZürcherInnen (Quelle: 20 Minuten / Bundesamt für Statistik). Die stärkste Stimmen haben AppenzellerInnen (Innerhoden), deren Stimme 39.41-mal mehr Gewicht hat als die Stimmen von ZürcherInnen.

Kommentar
Schlechte Ausreden und fehlende politische Bildung
«Worüber möchten die Podiumsgäste denn schon streiten; das Problem der tiefen Wahlbeteiligung ist doch offensichtlich!», dachte sich Darleen Pfister (19) im Hinblick auf das Politpodium «Politik ohne Volk?». Damit habe sie sich wohl ziemlich getäuscht, sagt sie und kommentiert:

«Diese Zahlen sollten eigentlich für Aufschreie sorgen: Nur ein Fünftel der jungen Erwachsenen und sogar weniger als die Hälfte der Pensionierten haben im vergangenen Jahr in Thun ihre Stimme abgegeben. Ist ein solches Wahlergebnis überhaupt noch repräsentativ? Wenn so wenige Menschen an der Entscheidungsfindung teilnehmen, kann man das überhaupt noch als demokratisch bezeichnen? Meine Überzeugung ist klar: Hier muss dringend etwas verändert werden.
«Wir dürfen die Demokratie nicht aufschieben, bis wir nichts mehr zu tun haben.»
Darleen Pfister
Das Podium «Politik ohne Volk?» holte mich etwas unsanft in die Realität zurück. Die meisten TeilnehmerInnen scheinen es nicht als Problem anzusehen, dass nur eine Minderheit sich an der Politik beteiligt. Für sie zeugt diese tiefe Wahlbeteiligung von Zufriedenheit und sie argumentieren, dass die Leute eben andere Prioritäten hätten. Wie bitte? Selbst wenn ich mit den aktuellen PolitikerInnen zufrieden bin, müssen sie von jemandem gewählt werden. Zudem haben wir alle eine volle Agenda, dennoch müssen wir uns alle um unsere Steuererklärung und den Haushalt kümmern. Wir dürfen die Demokratie nicht aufschieben, bis wir nichts mehr zu tun haben – ansonsten nehmen wir sie mit ins Grab.

Es gibt sicherlich weitere Gründe dafür, warum die Wahlbeteiligung so niedrig ist. Ich stimme den Podiumsgästen zu, dass die Komplexität ein Faktor ist. Selbst als politikinteressierte Person brauche ich einen Moment, um Vorlagen bei Abstimmungen zu verstehen. Dies liegt jedoch nicht an TikTok und der kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne von jungen Menschen, wie das mehrmals von den PodiumsteilnehmerInnen erwähnt wurde, sondern an der mangelnden politischen Bildung.
«Wie können wir von jungen Erwachsenen erwarten, dass sie an die Wahlurne gehen, wenn ihnen in der Schule nicht genügend darüber vermittelt wurde?»
Darleen Pfister
Wie können wir von jungen Erwachsenen erwarten, dass sie an die Wahlurne gehen, wenn ihnen in der Schule nicht genügend darüber vermittelt wurde? Um technische Themen verstehen zu können, benötigen wir die notwendigen Kompetenzen, welche wir derzeit einfach nicht haben. Damit meine ich nicht nur theoretisches Wissen über Proporz- und Majorzwahlen, sondern vor allem die Vermittlung von Fähigkeiten, die uns eine Teilhabe an der Politik ermöglichen.
Andererseits scheint Politik oft sehr abstrakt und weit entfernt vom eigenen Leben zu sein, wodurch es schwierig wird, sich damit zu identifizieren und darin einen Platz zu finden. Neben einem praxisbezogenen Politikunterricht müssen auch passende Räume geschaffen werden – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Die Räumlichkeiten für dieses Podium ist ein gutes Beispiel: Der innovativ gestaltete Co-Working-Space im FrachtRaum ist ein Sinnbild für die Demokratie, da Menschen aus den verschiedensten Bereichen hier gemeinsam arbeiten, sich begegnen und austauschen. Im Gegensatz zur Politik habe auch ich mich als junge Erwachsene dort sofort wohlgefühlt und vermute, dass es dem gesamten Publikum ebenso ergangen ist.

Neben der Vermittlung politischer Bildung in Schulen und dem Schaffen von niederschwelligen Möglichkeiten zur politischen Beteiligung wünsche ich mir ein Jugendmehr. Diese Massnahme, die von Christoph Auer erwähnt wurde, ähnelt dem Ständemehr, jedoch mit der jungen Stimmbevölkerung. Um bereits früher mitbestimmen zu können, sollten wir das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre senken. Des Weiteren sollten auch AusländerInnen, die in diesem Land leben, ein Stimmrecht erhalten. Wir müssen zudem mehr Anerkennung für andere Partizipationsformen als das Abstimmen und Wählen schaffen, da nicht alle Menschen auf dieselbe Art und Weise mitreden möchten.
Diese Wünsche sind nicht «nice-to-have». Sie sind notwendig für eine starke Demokratie.»
Politpodien von UND: Brisant, kontrovers und fair
UND Generationentandem lanciert vor eidgenössischen Abstimmungen politische Debatten für Menschen aller Generationen. Nationale Persönlichkeiten verschiedenster politischer Couleur treffen aufeinander – moderiert und organisiert durch unsere freiwillig Engagierten. «So fördern wir den Dialog der Generationen zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen», erklärt der Initiant und Geschäftsleiter von UND Generationentandem, Elias Rüegsegger.
Partizipativ, digital und innovativ – so lassen sich die Podien beschreiben: Das Publikum bringt sich via Mentimeter in die Diskussion mit ein. Via Livestream können ZuschauerInnen aus der ganzen Welt teilhaben. Die Podien stehen später als Video- und Audiopodcast auf den verschiedenen Plattformen zum Nachhören bereit.
