Weisst du, seit wann 18-Jährige in der Schweiz abstimmen können? Das ist noch gar nicht so lange her. Seit 1992 können 18-Jährige in der Schweiz abstimmen – zuvor lag das Stimmrechtsalter bei 20 Jahren. In der Stellungnahme zum damaligen Bundesbeschluss schrieb der Bundesrat: «Der Anteil der über 60-Jährigen in der schweizerischen Wohnbevölkerung ist zwischen 1910 und 1988 von 9,6 auf 21,6 Prozent gestiegen, während der Anteil der Achtzehn- und Neunzehnjährigen im gleichen Zeitrum von 3,5 auf 2,8 Prozent gesunken ist. […] Die Herabsetzung des Stimm- und Wahlrechtsalter gleicht die Alterstruktur des Stimmvolkes zwar nicht aus, der Anteil der prozentual untervertretenen Jugend wird aber immerhin um 160‘000 Stimmberechtigte vergrössert.» Das Stimmrechtsalter 18 wurde schlussendlich mit 72,75 Prozent angenommen.
Seit 1990 ist der Anteil der über 60-Jährigen um weitere 4,4 Prozent gestiegen, während der Anteil der Kinder und Jugendlichen (0-19-jährige) um 3,5 Prozent gesunken ist. Für Thomas Handschin ist daher klar: Es braucht eine weitere Angleichung des Stimmrechtsalters. Sein Vorschlag: Stimmrechtsalter ab Geburt.
Langjähriger Aktivismus für das Kinderstimmrecht
Thomas Handschin ist Ökonom – heute pensioniert – und setzt sich seit über 20 Jahren als Vorstandsmitglied der Kinderlobby Schweiz für die politischen Rechte von Kindern ein. In diesem Rahmen verfasste er die Broschüre «One child – one vote: Die Demokratie entdeckt eine Generation», welche 2011 in der Schriftenreihe der Kinderlobby Schweiz erschienen ist. Der Titel der Broschüre leitet sich von dem oft geäusserten Anspruch von «one man – one vote» ab, der garantiert, dass alle Wählerstimmen gleich gewichtet sind. Der Fakt, dass Kinder vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen sind, kommt für ihn der Annahme gleich, dass Kinder noch keine Personen sind.
Stimmrechtsalter ab Geburt
Wenn Menschen «Stimmrechtsalter ab Geburt» hören, ist ihre erste – etwas schockierte – Frage oft: Babys sollen abstimmen, wählen, und sich sogar zur Wahl aufstellen können? Denn das Stimmrechtsalter ab Geburt sieht tatsächlich vor, dass Menschen das aktive und passive Stimm- und Wahlrecht ab Geburt erhalten – sie können also wählen und gewählt werden. «Menschen, die so reagieren, verstehen nicht, was mit dem Stimmrechtsalter ab Geburt tatsächlich gemeint ist», sagt Thomas Handschin dazu und man merkt, dass ihn solche Fragen nach 20 Jahren Engagement für das Kinderstimmrecht langsam zu frustrieren beginnen.
Er erklärt es folgendermassen: Wenn Eltern ein Kind bekommen, erhalten sie neben ihrem eigenen Stimm- und Wahlrecht ein zusätzliches Stimm- und Wahlrecht für ihr Kind. Ganz konkret heisst das: Sobald Eltern ein Kind bekommen, flattern nicht nur zwei Couverts mit Abstimmungs- oder Wahlunterlagen ins Haus, sondern drei. «Werden dann nicht einfach die Stimmen der Eltern gestärkt?», scheint die offensichtliche nächste Frage zu sein. Das verneint Thomas Handschin, denn die Eltern nehmen das Stimm- und Wahlrecht nur so lange für ihre Kinder wahr, bis das Kind Interesse an der Politik zeigt und selbst teilnehmen möchte. «Wie so viel anderes auch», Thomas Handschin verweist hier auf die religiöse Zugehörigkeit, «wäre das Abstimmen und Wählen dann ein familieninterner Entscheid.»
Aber die Stimmbeteiligung!
Die Stimmbeteiligung bei den jungen Stimmberechtigten ist oft tief. Und die Beobachtung wird oft als Argument gegen jegliche Versuche, das Stimmrechtsalter herabzusetzen, genutzt: Die Jungen gehen sowieso nicht abstimmen und wählen, weshalb sollte man jetzt auch noch Kindern ein Stimmrecht geben? Eine einfache Herabsetzung des Stimmrechtalters garantiert nicht eine höhere Beteiligung der Jugendlichen. Das zeigen Untersuchungen aus dem Kanton Glarus, dem einzigen Kanton, in dem 16-Jährige auf kantonaler Ebene abstimmen können.
«Die Stimmbeteiligung ist für mich ein irrelevantes Argument, es hat nichts mit dem Stimmrecht zu tun», betont Thomas Handschin. Die Stimmbeteiligung sei generell tief, oft unter 50 Prozent – und trotzdem bleibe das Stimm- und Wahlrecht bestehen, oder? Er ergänzt: «18-Jährige konnten ihr ganzes Leben nicht politisch mitbestimmen – obwohl viele eine klare politische Position haben. Ist es da nicht auch verständlich, dass sie die ersten paar Jahre keine Lust haben, politisch mitzureden?» Und weiter: «Ausserdem kann man doch annehmen, dass Kinder, die bereits ihr ganzes Leben die Möglichkeit gehabt haben, politisch teilzuhaben und immer wieder mit ihren Eltern über ihr Stimm- und Wahlrecht gesprochen haben, später im Leben eher abstimmen und wählen werden.»
«Die Stimmbeteiligung ist für mich ein irrelevantes Argument, es hat nichts mit dem Stimmrecht zu tun.»
Thomas Handschin
«Die verstehen das doch nicht»
Sogar von jungen Menschen hört man immer wieder: Kinder und Jugendliche haben noch nicht die Fähigkeit, komplexe Vorlagen zu verstehen, deshalb sollten sie auch nicht darüber entscheiden können. Thomas Handschins Antwort auf dieses Argument: «Das würde heissen, dass jedeR Stimmberechtigte vor jeder Abstimmung einen Test machen müsste, um festzustellen, ob sie die Vorlage verstanden haben. Viele verstehen die Vorlagen nicht vollumfänglich, haben aber trotzdem das Recht darüber abzustimmen.» Das Argument sei für ihn daher ungültig.
«Kinder sind durchaus in der Lage, komplexe politische Themen zu verstehen und sich dazu eine Meinung zu bilden.»
Thomas Handschin
Ausserdem zeigten die engagierten Kinder, zum Beispiel im Kinderparlament, der Kinderkonferenz oder in anderen Partizipationsprojekten für Kinder, dass Kinder, die zum Teil erst acht Jahre alt sind, durchaus in der Lage seien, komplexe politische Themen zu verstehen und sich dazu eine Meinung zu bilden.
Kinderparlament: Wenn Kinder Politik machen.
In der Schweiz gibt es neben zahlreichen Jugendparlamenten, bei denen sich Jugendliche ab 14 Jahren engagieren, auch drei Kinderparlamente. Dort treffen sich 8 bis 14-jährige Kinder mehrmals im Jahr und diskutieren über Themen, die Kinder beschäftigen – angefangen bei öffentlichen Verkehrsmitteln und Spielplätzen bis zur Sicherheit an Fussgängerüber-
gängen. Dabei setzen sie sich nicht nur mit Themen ihrer Gemeinde auseinander, sondern auch mit den Kinderrechten. Zwischen den Sitzungen wird teilweise in Arbeitsgruppen weitergearbeitet. Diese entscheiden über die Finanzierung von Projekten oder setzen diese selbst um. Die Kinderparlamente engagieren sich aktiv bei der Gestaltung ihrer Lebensumgebung und werden von den Behörden in Fragen, die sie betreffen, einbezogen. Einige Kinderparlamente verfügen über politische Kompetenzen wie Anhörungs- oder Postulatsrechte.
Zukunftsorientierte Politik?
Verschiedene Untersuchungen zeigen: In vielen Fällen würden sich die Abstimmungs- und Wahlresultate nicht verändern, wenn… Es gibt jedoch, wie Thomas Handschin im Rahmen eines Interviews für die Kinderlobby Schweiz aufzeigt, einige Abstimmungen, bei denen die jungen Stimmberechtigten an der Urne eine fundamental andere Meinung hatten als die älteren Stimmberechtigten – beispielsweise bei der Verwahrungsinitiative, den Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit oder beim biometrischen Pass.*
«Junge Menschen und Kinder sind am längsten von politischen Entscheiden betroffen, sie müssten doch mitsprechen dürfen.»
Thomas Handschin
Bei seiner Recherche für die Broschüre «One child – one vote» hat Thomas Handschin herausgefunden, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie das Stimm- und Wahlrecht erhielten, zukunftsorientierter entscheiden würden – nicht nur links oder rechts, sondern zukunftsorientiert. «Und das ist doch etwas, das allen zugutekommen würde, oder nicht?», ergänzt Thomas Handschin, verwundert nach 20 Jahren Engagement darüber, dass sein Anliegen auf so viel Gegenwind stösst.
Betroffen, aber ohne Stimme!
Und damit spricht Thomas Handschin wohl das Hauptargument für jegliche Herabsenkungen des Stimmrechtsalters an: Junge Menschen und Kinder sind am längsten von politischen Entscheiden betroffen, sie müssten doch mitsprechen und -entscheiden dürfen.
Für Thomas Handschin ist es verwunderlich, dass Parteien in der Schweiz dieses Anliegen nicht aufgreifen. «Es gibt einzelne PolitikerInnen, die das Stimmrecht ab Geburt immer wieder ansprechen, aber keine Partei hat es in ihrem Parteiprogramm aufgenommen. Sie haben wohl Angst, dass die Vorlage scheitert.»
Aktuell scheint ein Stimmrecht ab Geburt in der Schweiz nicht mehrheitsfähig zu sein. Viele Initiativen zur Weiterentwicklung der Demokratie sind jedoch im Gange und für Thomas Handschin bleibt zu hoffen, dass sich auch beim Stimmrechtsalter bald etwas verändern wird.
*Anmerkung der Redaktion: Da es kaum Statistiken zum Abstimmungs- und Wahlverhalten nach Alter gibt, ist es herausfordernd, weitere solche Beispiele zu finden.