Sibel Arslan startete am 10. September 2020 einen weiteren Versuch zur Senkung des Stimmrechts und reichte ihren Vorstoss im Nationalrat ein. Wider Erwarten wurde er angenommen und sorgt nun dafür, dass wieder vermehrt darüber diskutiert wird. «Die Jungen sind leicht manipulierbar» oder «16-Jährige sind fähig, eine eigene Meinung zu bilden» sind typische Argumente. Weil ich wissen wollte, was davon stimmt, bat ich Claude Longchamp zum Interview.

Politisierte Jugend
Der Easyvote-Politikmonitor und der Jugendbarometer von Credit Suisse zeigen, dass sich Junge vermehrt politisch interessieren. Besonders gross ist die Bereitschaft, sich an Demonstrationen direkt zu äussern. Nicht aber die Motivation, an Wahlen und Abstimmungen teilzunehmen; die bleibe relativ konstant. Claude Longchamp kann sich das erklären: Seine Erfahrungen zeigen, dass sich stimmberechtigte 17-Jährige viel mehr für die Abstimmungsthemen interessieren als die, die nicht an die Urne dürfen. Deshalb unterstützt er die Idee, das Stimmrechtsalter mit dem Staatskunde-Unterricht zu verbinden.
Longchamp wünscht sich, dass die politische Bildung als wichtigster Hebel der Politisierung verstärkt wird. Die Wirkung der Medien sei abgeflacht, weil immer weniger Jugendliche etwas von News wissen wollten. «Und die Familie ist nur entscheidend, wenn Politik eine Rolle spielt», fügt Longchamp an.
«Wenn wir 20-Jährige fragen, ob sie es sich zutrauen, sagen die meisten auch Nein. Das würden auch die 30-, 40- und 80-Jährigen sagen. Niemand käme auf die Idee, ihnen deshalb das Stimmrecht wegzunehmen!»
Claude Longchamp
Von Freundinnen habe ich gehört, dass sie sich das Wählen und Abstimmen nicht zutrauen würden. Longchamp quittiert das als Scheinargument: «Wenn wir 20-Jährige fragen, ob sie es sich zutrauen, sagen die meisten auch Nein. Das würden auch die 30-, 40- und 80-Jährigen sagen. Niemand käme auf die Idee, ihnen deshalb das Stimmrecht wegzunehmen!» Umgekehrt schätzen EntwicklungspsychologInnen interessierte Leute als fähig ein, qualifizierte Entscheide treffen zu können. Das heisst, dass die interessierten 16- und 17-Jährigen in der Lage wären, abzustimmen. Die Uninteressierten dagegen nicht.
Warum eigentlich das Stimmrechtalter auf 16 senken und nicht auf 13? Kinder sind ab ungefähr diesem Alter urteilsfähig, besitzen jedoch noch nicht die politischen Reife. Bis dahin fehle ihnen die Fähigkeit, Mitverantwortung zu übernehmen und sich in eine andere Rolle zu versetzen, meint Longchamp.
Das Argument, dass Junge durch die Medien leicht manipulierbar seien, weist der Polit-Experte entschieden zurück. Er streite sich manchmal sogar mit seinen Neffen, weil sie besser informiert seien als er. Trotzdem sei es für 16-Jährige schwerer, einen Entscheid gegen die eigenen Eltern zu treffen, als für 25-Jährige. Grund sei die höhere emotionale Abhängigkeit oder auch der Erziehungsstil.
Angst vor Chaos
Nach vielen erfolglosen Initiativen und Vorstössen interessiert mich die Ursache für die langjährige Ablehnung des Stimmrechts ab 16. Claude Longchamp vermutet, dass in der Schweiz eine Art «Urangst» existiere: Wenn man die Jungen politisch mitentscheiden lasse, drohe ein Chaos auszubrechen. Als er miterlebte, wie das Stimmrecht von 20 auf 18 Jahre gesenkt wurde, habe er keinen Unterschied bemerkt. Zurzeit würden zwar bei einer jüngeren Stimmbevölkerung die Partei der Grünen profitieren, doch in drei Jahren werde das wieder ganz anders aussehen, ist Longchamp überzeugt. Denn: Gross verändern werden sich die Abstimmungsergebnisse nicht, weil der Durchschnitt der Schweizer Gesellschaft pro Jahr fast drei Jahre älter wird.

Eines der wichtigsten Argumente Longchamps ist, der Gesellschaft in Form der Senkung des Stimmrechtsalters ein Gegengewicht zu geben. «Es geht nicht um politische Machtverschiebung, sondern darum, dass wir jene, die sich für Politik interessieren, ernst nehmen.» Für Longchamp ist klar: «Ich bin dafür, es ist Zeit und es geht» (lacht).
Vor meinem 18. Geburtstag wird die Senkung wohl noch nicht eingeführt. Claude Longchamp macht mir bewusst, dass diese Veränderung Zeit braucht. Der Trend gehe zweifelsfrei in diese Richtung, er glaube aber nicht, dass es morgen schon eingeführt wird: «Wissen Sie, ich war schon beim Stimmrecht ab 18 Jahren dabei, und ich sage jetzt nicht, dass das auch noch zwölf Jahre dauert. Aber das sind keine Prozesse, die linear laufen und gerade zum Ziel führen. Das wird auch beim Stimmrecht ab 16 nicht anders sein.»
Informationen zur Person
Claude Longchamp (63) ist Politikwissenschaftler und Historiker, spezialisiert auf Meinungsbildung zu Abstimmungen und Wahlen. Er gründete das Forschungsinstitut GFS Bern und ist bis heute Mitglied des Verwaltungsrats. In diesem Jahr gründete er die eigene Firma: «Longchamps Kompetenzen – Politik analysieren, Geschichte(n) erzählen».