Der «Rostgarten» in der Orangerie der ehemaligen Schadau-Gärtnerei bietet einen altehrwürdigen, ja anachronistischen Rahmen für einen angeregten Generationentalk zu neuen Arbeitsformen. Mit Nada Endrissat (46), Dozentin und Forscherin am Institut New Work der Berner Fachhochschule, und Daniel Schmid (32), Betriebsleiter des FrachtRaum in Thun, treffen zwei Menschen zusammen, die viel praktische Erfahrung und theoretisches Wissen zur Arbeitswelt der Zukunft mitbringen.
Luc Marolf (16) führt durch den Abend. Zuerst interessiert ihn, wie die Arbeitsplätze von Nada und Daniel ganz konkret aussehen. Nada arbeitet seit Beginn der Pandemie oft am Esszimmertisch oder dann im Open-Space-Raum der BFH im Marzili. Daniels Arbeitsort ist eine alte grosse Halle neben dem Bahnhof Thun – der FrachtRaum – mit Arbeitsplätzen für sehr unterschiedliche Berufsleute, die Selbstständigkeit im Coworking leben.
Was unterscheidet NewWork vom bisherigen Verständnis der Arbeit? Traditionelle Arbeit ist firmen- und ortsgebunden, die Arbeitszeiten sind vorgegeben. Für viele Menschen war und ist Arbeit ein notwendiges Übel, um die Existenz zu sichern. Mit zunehmender Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt findet gerade bei jüngeren Generationen eine Werteverschiebung statt – Arbeit soll der Selbstverwirklichung dienen und Freude machen. Die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit lösen sich auf und das Büro als klassischer Arbeitsplatz verliert seine Berechtigung. Daniel erlebt dies als sehr bereichernd. Er kann sich kreativ ausleben, es gibt Raum für neue Ideen im Coworking, er gestaltet sich sein Arbeitsumfeld selber und bestimmt die Arbeitszeiten flexibel nach seinen Bedürfnissen.
«Ich kann mir meine NetzwerkpartnerInnen und meine AuftraggeberInnen flexibel auswählen.»
Daniel Schmid
Was wird eigentlich unter NewWork verstanden? Nada Endrissat definiert, dass es dabei um Arbeitsformen mit sehr viel Selbstbestimmung in Bezug auf Arbeitszeit und -ort geht, aber auch hinsichtlich der AuftraggeberInnen. Was in Amerika und in England bereits Tradition hat, wird auch in der Schweiz für viele Menschen, noch beschleunigt durch die Erfahrungen während der Pandemie, zum neuen Arbeitsalltag. Neue Technologien ermöglichen firmenfernes Arbeiten – sei dies zuhause oder in OpenSpaces, also in Räumen mit Arbeitsplätzen für verschiedene Berufsleute. Coworking, Cocreation, Entrepreneurship oder Freelancer sind «neudeutsche» Begriffe für Arbeitsformen in diesem Kontext. Aber auch sogenanntes «Gig-Working» nimmt zu: ArbeitnehmerInnen arbeiten projektgebunden für verschiedene Firmen, reisen quasi «von Gig zu Gig», bewerben sich via Plattformen und finanzieren sich über verschiedene AuftraggeberInnen.
Brauchen wir diese neuen Arbeitsformen wirklich oder ist das nur eine Modeerscheinung? Nada weiss, dass viele Unternehmen Schwierigkeiten haben, gut ausgebildete Fachleute für ein dauerhaftes Engagement zu finden. Viele junge Menschen wollen sich beruflich diversifizieren und sich mit unterschiedlichsten Aufträgen breit entwickeln, immer neue Herausforderungen anpacken. Generalisierung und Vielfalt des Portfolios sind erstrebenswerter als die klassische Karriereleiter. Zudem ist es dank Globalisierung und Digitalisierung möglich, weltweit unterwegs zu sein – der Arbeitsort ist gleichwohl frei wählbar. ArbeitnehmerInnen pendeln zwischen Mutterfirma, Homeoffice und Coworking-Space. Das spart Arbeitswege und Immobilienkosten – eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Sowohl ArbeitnehmerInnen wie auch Unternehmen wünschen sich eine grösstmögliche Flexibilität im Arbeitsverhältnis. Natürlich ist dies längst nicht in allen Berufsfeldern machbar – dort, wo die soziale Interaktion im Zentrum steht, beispielsweise in Pflege und Pädagogik, sind Präsenz und feste Bindungen wichtig für nachhaltigen Erfolg.
«In Pflege und Pädagogik sind soziale Interaktionen nicht wegzudenken – Digitalisierung und Automatisierung werden die menschliche Gegenwart nie ersetzen können.»
Nada Endrissat
Diese Flexibilität hat aber auch ihren Preis. Sie verlangt von allen Seiten grosses gegenseitiges Vertrauen, eine hohe Selbstverantwortung und bewusste Pflege der Community. Jede und jeder muss eine gesunde Balance zwischen Arbeits- und Freizeit finden und sein Netzwerk selbstständig pflegen. Es drohen Vereinsamung, weltweite Konkurrenz durch hochspezialisierte Fachleute, welche Dienstleistungen günstiger anbieten, eine «Hire and fire»- Mentalität wie in den USA. Arbeitnehmende hierzulande wünschen sich eben auch Verbindlichkeit und Wertschätzung von ihren Auftraggebern. Die Forschung erwartet für die Schweiz keine drastischen oder raschen Veränderungen, solange es der Wirtschaft gut geht.
NewWork löst viele Fragen aus. Wie wird die arbeitende Gesellschaft künftig aussehen? Schafft es die Wirtschaft, neue Berufsfelder zu generieren oder werden immer weniger Menschen hochqualifizerte Arbeit leisten, während andere vom Arbeitsprozess ausgeschlossen sind? Wie entwickeln sich die Regionen, wenn die Städte nicht mehr unbedingt das Zentrum der Arbeit sind, wenn die Durchmischung Stadt-Land sich verändert? Wo finden Arbeitende zusammen? Wie entstehen neue Produkte und Ideen? Welche Führungsqualitäten müssen neu entwickelt werden?
Politik und Gesellschaft sind gefordert, neue Arbeitsformen zu integrieren und sensibel mit den Veränderungen umzugehen, die NewWork in der Gesellschaft auslösen wird. Die Unternehmen müssen neue Arbeits- und Führungsmodelle entwickeln und beispielsweise flexible Arbeitsplätze, Coaching, neue Kommunikationsräume anbieten. Die Arbeitenden benötigen neue fachliche und soziale Kompetenzen – sogenannte future skills – wie Flexibiltät, hohe Selbstverantwortung und Selbstständigkeit, Kreativität, Kollaborations- und Reflexionsfähigkeit und die Bereitschaft, sich laufend neu zu orientieren.
Die Schlussfrage von Luc, ob die beiden Gesprächsteilnehmer nochmals denselben Beruf wählen würden, bejahen Nada und Daniel mit einem deutlichen JA. Dort, wo Fähigkeiten, Spass und Interesse zusammentreffen, öffnet sich eine breite Zukunft. Und NEIN – wo sie Ferien machen werden, wissen sie noch nicht. Sie bleiben auch diesbezüglich flexibel und offen.
Was ist der Generationentalk?
Zwei Generationen – ein Thema: Das ist der Generationentalk von UND Generationentandem. Jeden Monat diskutieren Jung und Alt miteinander über brisante Themen. Der Talk dauert zwischen 30 und 45 Minuten. Danach hat das Publikum die Gelegenheit, sich an der Diskussion zu beteiligen. Der Generationentalk, moderiert von einem ModeratorInnen-Team von UND, trifft seit Mitte 2016 stets den Nerv der Zeit und setzt sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen auseinander.
Der Talk wird vom generationendurchmischten Redaktionsteam professionell aufgezeichnet und fotografisch dokumentiert. Eine Übersicht zu allen Talks gibt es hier.