Nähe und Intimität sind für die meisten Menschen starke Bedürfnisse, die sie in romantischen Beziehungen zu leben versuchen. Seit jeher gibt es verschiedene Arten, romantische Beziehungen zu leben. Doch wie haben sich diese Beziehungsformen über die Jahre verändert? Geht der Trend hin zur Polygamie und weg vom monogamen Leben?
Jessica Sigerist (34), Gründerin des queer-feministischen Sex Shops «untamed.love», und Caroline Fux (40), Psychologin und Sexologin beim «Blick», diskutierten darüber im Generationentalk am 25. Mai 2021.
Wie wurden Beziehungen in den 60er- und 70er-Jahren gelebt? Das wirft sogleich die weitere Frage auf: Von welchen Beziehungen sprechen wir? Es fanden damals gesellschaftliche Veränderungen statt, gerade auch mit der Antibabypille. Sicher, die Normen waren stärker, klarer: Geheiratet wurde schneller – das Konkubinat war verboten. Familien- und Lebensmodelle waren gegeben. Eine offene Beziehung zu leben war keine Wahlmöglichkeit. Alternative Beziehungsmodelle gab es trotzdem: Die Hippiezeit und die freie Liebe. Hier hatte die Antibabypille grosse Auswirkungen, denn mit ihr schwand die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Ebenso fanden queere und homosexuelle Menschen immer Möglichkeiten, ihre Sexualität zu leben. Es war allerdings schwieriger für sie, weil verboten. Heute lebt es sich in dieser Beziehung freier.
Liebe als starke Kraft
Die Liebe ist eine starke Kraft, die immer ihren Weg findet. Früher hatten Wirtschaftlichkeit und Recht einen massiven Einfluss aufs Beziehungsleben; heute haben wir die Wahl, wie wir eine Beziehung leben möchten.
Im historischen Kontext gesehen, war nicht immer das monogame Beziehungsmodell, die Ehe, vorrangig. Es gab früher bereits andere Beziehungsformen. Die Monogamie lässt sich auf die Sesshaftigkeit der Menschen zurückverfolgen. Die Kleinfamilie, wie wir sie heute kennen, kam erst mit der industriellen Entwicklung auf.
Und was heisst früher? Polyamore Beziehungen werden heute als grosse Entdeckung gewertet. Dieses Modell gab es aber immer schon. Es sei wichtig, sich als Paar abzustimmen, meint Caroline Fux. Es gibt keine linearen Vorstellungen von Glück und Wohlbefinden. Die Aussage, die heutigen Jungen seien «versext und pornofiziert», kann Caroline Fux nicht bestätigen. Auch der Meinung, Junge hätten heute früher Sex, widerspricht die Statistik: Sie liegt bei 16 Jahren. Allerdings gibt es Streuungen – früher und deutlich später. Die Sexologin erlebt die Jugendlichen als sehr umsichtig, sie erkundigen sich bei ihr nach Informationen. Diese seien wichtig für sie.
Besser als ihr Ruf
Jessica Sigerist fügt an, die Pornografie sei besser als ihr Ruf. Queere Jugendliche können in der Pornografie auf Sachen stossen, die ihnen helfen, ihre Identität zu finden. Nach Sigerist wird das Thema Pornografie in den Medien aufgebauscht und die Diskussion darüber von Konservativen befeuert. Voraussetzung sei die Einordnung der Pornografie durch die Jugendlichen. Sie können unterscheiden. Die «Antipornografie» ist ebenso eine Industrie, einfach aus anderen Motiven. Sexuelle Kompetenz ist wichtig. Sexualität «kann man nicht einfach und Liebe ist nicht gleich Sex». Lernen ist daher gefragt, doch darüber gelehrt wird wenig. Verbesserungspotenzial sehen die beiden Fachfrauen in der Schule: Dort werde nur ein Bruchteil des Wissens vermittelt. Im Sex und in Beziehungsfragen haben wir also nie ausgelernt.
Nach wie vor ein Wunschmodell
Starre Monogamie gab es nie. Die aktuell vorherrschende ist die serielle Monogamie: Exklusive Zweierbeziehung, jedoch nicht mehr, «bis dass der Tod euch scheidet». Die grosse Mehrheit der Menschen pflegt die Vision einer glücklichen, monogamen Beziehung. Freier oder weniger freier gelebt. Sich im Zweiersystem gegenseitig zu genügen, ist für viele wichtig. Dies ist nach wie vor das Wunschmodell. Eine stärkere Reflexion darüber wäre aber wichtig; es gibt nicht bessere oder schlechtere Beziehungsmodelle. Gesellschaftlich werden gewisse Beziehungsmodelle nicht gleichwertig behandelt und Monogamie ist gesetzlich verankert.
Wir brauchen andere Vorbilder für Beziehungsmodelle. Das heisst allerdings nicht, dass das nach wie vor priorisierte monogame Beziehungsmodell ein Auslaufmodell ist.
Tinder – Beziehung on demand
Wie verändern Tinder und Dating Apps unser Beziehungsleben? Caroline Fux verortet diese als Stellvertreter für verschiedene Phänomene. Jede neue technische Errungenschaft zeigt sich in positiven und negativen Seiten. Sie schafft Möglichkeiten, beinhaltet jedoch auch schwierige Aspekte. Je mehr Wahlmöglichkeiten bestehen, desto schwieriger wird es, sich festzulegen. Caroline Fux möchte sich nicht dem «Technologie-Negativismus» hingeben. Eine prüde Sexualmoral spiele hier eine Rolle, meint Jessica Sigerist. Früher gab es Zeitungsannoncen oder man traf sich beim Kiosk – heute sind es Tinder und Co.
Rückschau
Sie schauen am Lebensende auf ihr Beziehungsleben zurück: Was würden sie uns darüber berichten?
Jessica Sigerist wollte und will ihre Beziehungen immer ehrlich, mit Herzblut und authentischen Gefühlen leben. Caroline Fux bezeichnet sich als Menschen, der die Liebe immer ins Zentrum des eigenen Lebens stellt. Dies möchte sie so beibehalten. Man kann Zeit dümmer verbringen als mit der Liebe.
Was ist der Generationentalk?
Zwei Generationen – ein Thema: Das ist der Generationentalk von UND Generationentandem. Jeden Monat diskutieren Jung und Alt miteinander über brisante Themen. Der Talk dauert zwischen 30 und 45 Minuten. Danach hat das Publikum die Gelegenheit, sich an der Diskussion zu beteiligen. Der Generationentalk, moderiert von einem ModeratorInnen-Team von UND Generationentandem trifft seit Mitte 2016 stets den Nerv der Zeit und setzt sich mit politischen und gesellschaftlichen Themen auseinander.