Miriam Steiner hat noch keine Kinder. Doch gerade der Gedanke an zukünftige Generationen war für sie einer der Hauptgründe, «Extinction Rebellion» beizutreten. Diese Organisation macht besonders durch zivilen Ungehorsam auf sich aufmerksam und will Regierungen dazu bringen, Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Sollte sie eines Tages Kinder haben, so möchte sie mit gutem Gewissen sagen können, dass sie sich gegen den Klimawandel eingesetzt hat. Menschen vorzuschreiben, sie sollten wegen dem Klimawandel auf Kinder verzichten, geht ihr jedoch zu weit.
Dominic Roser hat zwei Kinder. Bereits lange vor deren Geburt hatte er sich mit dem Thema Klimawandel beschäftigt und sich die Frage gestellt, ob es überhaupt vertretbar sei, Kinder in die Welt zu setzen. Auf Kinder zu verzichten hält er jedoch nicht für zielführend. Kinder sind Fluch und Segen zugleich. Solange sie gleich viele Immissionen verursachen wie wir, sind sie eine «Umweltsünde». Gleichzeitig bedeutet eine nächste Generation auch immer neues Wissen, mehr Innovation. Ob ein Kind unter dem Strich positiv oder negativ für die Welt ist, könne unmöglich beantwortet werden. Laut Dominic Roser ist es daher keine Lösung, auf Kinder zu verzichten. Vielmehr müssten wir lernen, viel weniger oder besser gar kein CO2 mehr zu verursachen.
Kind als Luxusgut?
Für Miriam Steiner kommt es nicht in Frage, Kinder als Luxusgut zu betrachten. Wenn es um den Klimawandel geht, müsse global gedacht werden. Eine weitreichende Regelung, wer wie viele Kinder haben dürfe, sei unrealistisch und moralisch nicht vertretbar. In einigen Ländern sind Kinder praktisch die Altersvorsorge ihrer Eltern. Diese sind auf ihre Nachkommen angewiesen.
Die Frage, ob wir eine moralische Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen tragen, bejaht Miriam Steiner. Wir seien alle biologisch gesehen daran interessiert, dass unsere Spezies so lange wie möglich lebt. Aus moralischer Sicht solle demnach jede/r Einzelne mit aller Macht dazu beitragen, dass auch die folgenden Generationen ein gutes Leben auf der Erde führen können.
Forderungen, worauf Menschen für das Klima verzichten sollen, können sehr weit gehen. So weit, dass dies gewisse Freiheiten Einzelner stark einschränkt. Auf den Einwand, ob dieser Preis nicht zu hoch sei, meint sie, Verzicht sei nicht zwingend negativ. Wer auf gewisse Dinge bewusst verzichtet, verliert nicht gleich alles.
Dominic Roser ergänzt, dass der «angenehme» Verzicht nicht genügen wird, um die Klimaziele zu erreichen. Seiner Meinung nach sind spürbare und umfassende Veränderungen nötig, um unsere moralische Pflicht zu erfüllen.
Wann diese erfüllt ist – schwierig zu sagen. Aktuell, so sind sich beide einig, sei sie sicherlich noch von niemandem erfüllt.
Wann ist ein Verzicht verhältnismässig?
Die zukünftigen Folgen des Klimawandels stellen eine grosse Gefahr für die Menschheit dar. In Ausnahmesituationen könnten selbst enorme Verzichte verhältnismässig sein, so Dominic Roser. In einem solchen Fall heiligt der Zweck die Mittel. Der Einwand: «Es fällt mir schwer, auf dieses und jenes zu verzichten», ist in seinen Augen nicht legitim. Entscheidend sei, wie viel der Verzicht bringt. Wir müssen lernen, auf effiziente Art und Weise zu verzichten, indem wir die Massnahmen umsetzen, die am meisten bringen, unabhängig davon, wie schwer oder leicht sie den Menschen fallen.
Bei der Frage, wo die Schmerzgrenze liegt, sind sich Miriam Steiner und Dominic Roser einig: Dies könne nicht abschliessend beantwortet werden. Zum einen ist sie von Person zu Person unterschiedlich, zum anderen entwickeln wir uns stetig weiter, wodurch sich unsere Grenzen verschieben. Miriam Steiner hält nicht viel von Verboten. Aus psychologischer Sicht sei es sinnvoller, gewisse Dinge wie die Benutzung des ÖVs attraktiver und die Nutzung des Autos unattraktiver zu gestalten, als Verbote auszusprechen. Anreize statt Verbote sei der bessere Ansatz.
Dominic Roser findet Verbote aus zweierlei Gründen okay. Einerseits bedeute Liberalismus, dass jeder sein Leben frei führen dürfe, solange er nicht das Leben von anderen beeinflusst. Durch unseren CO2-Ausstoss beeinflussen wir aber die Umwelt und somit unsere Mitmenschen, was das Einführen von Verboten rechtfertige. Andererseits sei es aus psychologischer Sicht viel einfacher, etwas einzuhalten, wenn es verboten ist.
Die anderen zuerst?
Nicht selten wird das Argument angeführt, die Schweiz müsse nicht handeln, solange Staaten wie die USA und China nichts tun. Hierzu meint Dominic Roser, es sei natürlich ärgerlich, wenn andere Staaten nicht am gleichen Strang ziehen. Eine Entschuldigung dafür, keine Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, sei es aber auf keinen Fall. Man müsse immer den Blick auf das Ganze behalten, sich nicht bei kleinen Ungerechtigkeiten aufhalten. Miriam Steiner stimmt zu. Jeder Einzelne müsse Verantwortung wahrnehmen, keiner sei davon befreit.
Ob es auf die debattierten Fragen überhaupt eine abschliessende und befriedigende Antwort gibt? Da sind sich der Ethiker und die Klimaaktivistin einig. Antworten gebe es auf jeden Fall, sie seien nur sehr schwer zu finden. Deshalb solle sich unser Fokus nicht auf die Debatte «Kind ja oder nein», sondern auf andere Themen richten. Dominic Roser spricht sich dafür aus, mehr Ressourcen in die Forschung zu investieren. Miriam Steiner wird weiterhin auf die Strasse gehen und sich dort für die Forderungen von «Extinction Rebellion» einsetzen.
Aktuell müssen wir alle unseren eigenen Weg finden, unsere moralische Verantwortung wahrzunehmen, und zwar so schnell und effizient wie möglich.