Eigene Erfahrungen machen zu dürfen, stärkt das Selbstvertrauen
Annemarie Voss (76)
Das Leben ist gefährlich und darum ist es natürlich, dass wir die Schwächsten, also die Kinder, beschützen müssen. Deswegen lassen viele Eltern ihre Kinder ungern aus den Augen oder nur dann, wenn eine andere befähigte Person die Aufsicht übernimmt.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich als Kind am liebsten dort gespielt habe, wo ich mich der Kontrolle der Erwachsenen entziehen konnte. In der Nähe meines Zuhauses wurde ein Wohnblock gebaut, die Baustelle war nach Feierabend und an den Wochenenden nur schlecht gesichert und wir spielten dort Verstecken. Bei den Treppen, die sich noch im Rohbau befanden, sprangen wir runter; es waren richtige Mutproben, oft verbunden mit kleineren Verletzungen und zerrissenen Kleidern. Wir konnten uns aber auch mal streiten, ohne dass gleich jemand dazwischenging. Aber wir diskutierten auch, was wir mal werden wollen und wie wir Vater oder Mutter leichter um den Finger wickeln können.
«Als Kind habe ich am liebsten dort gespielt, wo ich mich der Kontrolle der Erwachsenen entziehen konnte»
Annemarie Voss
In den Herbstferien weilte ich oft bei einer Bauernfamilie in den Ferien. Die Kinder der Familie und ich mussten viel helfen, bekamen aber auch Aufgaben, die nicht überwacht wurden. Das schönste war, mit Sennenhund und Anhänger in zwei grossen Kannen die Milch in die Käserei zu bringen. Wir trafen dort die anderen Kinder aus dem Dorf und konnten uns verabreden, uns abends noch am Bach zu treffen. An einer Stelle war das Wasser tief, weil dort mal eine Mühle stand. Dort sind alle reingesprungen, egal ob man schwimmen konnte oder nicht – und das oft bei 13 Grad. Es gab uns immer das Gefühl, mutig und verwegen zu sein. Ich glaube, das ist für die Entwicklung nicht nur körperlich förderlich, sondern stärkt das Selbstvertrauen und sicher auch das Immunsystem. Es war schön, dass die Erwachsenen unseren Fähigkeiten vertrauten, obwohl wir uns damals dazu gar keine Gedanken machten. Geschimpft wurde zwar manchmal schon, wenn wir völlig verdreckt nach Hause kamen, aber allzu schlimm war das nicht; schliesslich sind wir bei den Arbeiten auf dem Hof auch nicht immer sauber geblieben.
Auf der Suche nach Abenteuer
Ahmad Zaidan (35)
Du hast ein Kind. Es ist zehn Jahre alt. Es will in den Wald, weit weg, allein. Rucksack, Schlafsack, Karte und Kompass – es sucht eine Erfahrung, ein Abenteuer. Erlaubst du es ihm? Falls du nein sagst, was passiert mit ihm? Wie wird deine Entscheidung seine Entwicklung beeinflussen? Was wird aus ihm in der Zukunft? Welche Risiken würde es dann eingehen, wenn deine Zustimmung nicht mehr entscheidend ist? … Und wenn du ihm ja sagst?
Freiraum und Eigenständigkeit – gefährlich oder notwendig?
Anita Bucher (58)
In den vergangenen 50 Jahren hat sich das Leben stark verändert. Die stetige Verkehrszunahme, die fortschreitende Digitalisierung sowie das Bevölkerungswachstum haben grossen Einfluss auf den Bewegungsspielraum für Kinder.
«Heutzutage wollen die Eltern viel mehr wissen, wo sich ihre Kinder aufhalten»
Anita Bucher
Ich durfte früher mit meinen Schwestern oder FreundInnen ganze Nachmittage unterwegs sein und Abenteuer erleben. Wir machten Mutproben und streiften weit in der Gegend umher. Unsere Mutter wusste jeweils nicht, wo wir uns aufhielten. Wir genossen diese Freiheit und waren jeweils zum Abendessen wieder daheim. Heutzutage wollen die Eltern viel mehr wissen, wo sich ihre Kinder aufhalten, da sie sich um ihre Sicherheit sorgen. Praktisch jedes Kind hat ein Handy, damit die Eltern es immer erreichen können. Aber die Kinder von heute müssen auch die Erfahrung machen können, dass die Eltern ihnen etwas zutrauen, zum Beispiel, dass sie den Schulweg allein zurücklegen können. So gewinnen sie Selbstvertrauen, nicht wenn sie immer mit dem Auto hingeführt werden.
Woher kommt der Drang zum «Helikoptern»?
Helmut Segner (67)
Das Sicherheitsdenken ist bei Eltern heute verbreiteter und intensiver als früher. Fahrradfahren ohne Helm – heute undenkbar, früher der Normalfall. In den 1950er-Jahren wollte man brave, nicht unbedingt selbstständige Kinder. Selbstständig wurden sie aber oft notgedrungen, weil die Eltern wenig Zeit für die Erziehung hatten. Heute will man selbstständige Kinder, behütet sie aber rund um die Uhr, was eher weniger förderlich ist für die Entwicklung zur Selbstständigkeit. Woher kommt der Trend der Überbehütung und zum Mikromanagement des Nachwuchses? Eine Ursache dürfte in der technischen Entwicklung liegen, insbesondere in der Verfügbarkeit von Handys. Wenn wir früher am Nachmittag ins Schwimmbad gingen, waren wir für diesen Zeitraum der elterlichen Behütung (glücklich) und Kontrolle entkommen; mussten dann aber auch klarkommen ohne Handy-Nabelschnur. Neben solch technischen Aspekten spielen aber wohl auch gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle: Der Hirnforscher Ralph Dawirs weist darauf hin, dass Eltern heute meist weniger Kinder haben, auf die sich dann vermehrt die Aufmerksamkeit konzentriert. Früher in den Grossfamilien war oft schlicht die Zeit nicht, sich intensiv um jedes einzelne Kind zu kümmern. Zudem leben die Kinder heute in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft, was die Eltern dazu verführen mag, den Kindern weniger Raum zum Ausprobieren zu lassen. Stattdessen wird überlegt, welches Hobby für den späteren Werdegang der Kinder von Nutzen sein könnte, ob es nicht gut wäre, sie noch beim Chinesischkurs für Erstklässler anzumelden oder in den Klavierunterricht zu schicken, oder… Und weil dann das Tagesprogramm so dicht gedrängt ist, werden die Kleinen im Elterntaxi gefahren, und es bleibt kaum Zeit zum elternfreien Spielen.
«Eltern fühlen sich zunehmend verunsichert und anstatt loszulassen, kontrollieren sie ihren Nachwuchs vermehrt»
Helmut Segner
Bei der elterlichen Überbetreuung mögen aber auch Ängste vor den zunehmenden Risiken in der heutigen Welt mitspielen – «Es hat ja so viel Autoverkehr, da kann man die Kinder doch nicht zu Fuss in die Schule gehen lassen» (also fährt man sie mit dem SUV und gefährdet dadurch noch die Kinder, die ohne elterliches Taxi in die Schule gehen). Vor lauter Warnungen von Experten und Beratungsstellen, was alles schieflaufen könnte bei der Erziehung der Kinder, fühlen sich Eltern zunehmend verunsichert und anstatt loszulassen, kontrollieren sie ihren Nachwuchs vermehrt. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schliesslich steuert noch interessante Überlegungen zum Helikopter-Elterntum bei. Er erklärt die Überbehütung der Kinder als Folge eines Narzissmus‘ der Eltern: Sie wollten erfolgreiche Kinder haben, um sich selbst als kompetente Erzieher inszenieren zu können.
Nun würden sich die wenigsten Eltern selbst als Helikoptereltern einstufen. Die Autorin Michaeleen Doucleff, die das Buch «Kindern mehr zutrauen» verfasste, hat dazu einen interessanten Vorschlag: Man schaltet die Aufnahmefunktion des Handys ein und erfasst damit eine Stunde lang, wie viel Anweisungen man in diesem Zeitraum seinen Kindern gibt. Doucleff selbst kommt auf mehr als 100.