Die Waldfrau Rahel Schönthal eine Begegnung zwischen den Baumkronen

Die selbständige Physiotherapeutin Rahel Schönthal lebt seit fast einem halben Jahr in einem ehemaligen Jagdschlösschen auf der grossen Waldlichtung mitten im Berner Forst. Auf einem Spaziergang zeigt sie uns ihren ganz persönlichen Kraftort.

Jürg Krebs (71), Sarah Hämmerli (24) | Bilder Walter Winkler (77)

«Im Wald liegen Geborgenheit und Unheimlichkeit nahe beieinander», sagt Rahel Schönthal. – Bild: Walter Winkler
«Im Wald liegen Geborgenheit und Unheimlichkeit nahe beieinander», sagt Rahel Schönthal. – Bild: Walter Winkler

«Der Weg bis zu mir nach Hause dauert von hier aus eine gute halbe Stunde», kündigt uns Rahel Schönthal (35) am Bahnhof Rosshäusern in der Region Bern an. Schon nach wenigen Schritten finden wir uns im Wald wieder: Es weht ein sanfter Wind, der die Baumkronen zum Rascheln bringt. An einigen Stellen erblicken die ersten Schneeglöckchen das frühlingshafte Sonnenlicht, das alles in einen warmen Schleier taucht. Unter unseren Füssen knistert mal das herabgesegelte Laub auf dem Boden, mal gibt die vom Regen noch etwas durchnässte Erde schmatzende Geräusche von sich. Einen kurzen Abschnitt gehen wir sogar noch über einen Teppich aus Eis. «Im Winter war die Velofahrt über die vereisten Waldwege eine Herausforderung», sagt Rahel Schönthal lächelnd.

Rahel Schönthal im Wald. – Bild: Walter Winkler
Rahel Schönthal im Wald. – Bild: Walter Winkler

Von weit her bellen Polizeihunde, die gerade ihr Training absolvieren. Eine Motorsäge heult auf. Sonst stört nichts die Ruhe im Wald, der sich langsam mit neuem Leben füllt.

Geborgen und unheimlich

Wir durchqueren einen Waldabschnitt, in welchem das grüne Moos zwischen den Bäumen so weich aussieht, dass man sich am liebsten hinlegen und tagträumen würde. Rahel Schönthal bewegt sich sehr sicher durch den Wald. «Wenn ich nachts durch den Wald gehe, werden die Füsse auch zum Augenersatz. Ich benötige keine Taschenlampe. Manchmal strahlen die Baumstämme ein feines Licht aus», sagt die Naturliebhaberin. Und: «Das Grenzerlebnis, sich im Wald nachts zurechtzufinden, schärft die Sinne und fördert ein natürliches Selbstbewusstsein.» Für StadtbewohnerInnen ist die Orientierung schwieriger, obwohl der Häuserwald ja mindestens so unübersichtlich ist.

– Bild: Walter Winkler
– Bild: Walter Winkler

Im Wald liegen Geborgenheit und Unheimlichkeit nahe beieinander. Feengeschichten und Schauermärchen spielen sich hier ab, zumindest in Erzählungen. «Ich fürchte mich nicht», sagt Rahel Schönthal und lacht. Sie habe sogar schon mehrfach im Wald übernachtet. Unheimliche Geräusche hat sie gelernt auszublenden und einfach ruhig einzuschlafen. Es waren wohl ihre erholsamsten Nächte.

Gut für die Lunge

Rahel Schönthal verbrachte schon als Jugendliche viel freie Zeit im Wald. Sie erholte sich dort vom Stress in der Schule oder verarbeitete Dinge, die sie gerade beschäftigten. «Für mich ist der Wald bis heute das ideale Umfeld, um zu mir selber zu kommen.» Mit sich alleine zu sein statt wegzulaufen, hilft, wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.  Rahel Schönthal findet bei sich Antworten auf ihre Fragen und tankt so neue Energie, der Wald bietet einen idealen Raum dafür.

Im Wald mit der Waldfrau. – Bild: Walter Winkler
Im Wald mit der Waldfrau. – Bild: Walter Winkler

Die Wissenschaft bestätigt heute die heilende Wirkung des Waldes. Waldspaziergänge senken Blutdruck und Stress, die staubfreie Luft tut der Lunge gut und das Immunsystem wird durch Stoffe angeregt, die die Bäume abgeben. Shrin yoku – Waldbaden – nennen die Japaner die medizinische Heilkraft des Waldes. Mit allen Sinnen ins Grüne, lautet also die Devise!

Abgeschieden – nicht einsam

Wir erreichen die Waldlichtung, die früher ein Moorgebiet war. Das ehemalige Jagdschlösschen, in dem Rahel Schönthal seit gut einem halben Jahr mit ihrem Partner lebt, liegt mitten auf der Heiteren. Eine abgeschiedene und einsame Wohnlage? «Ja, und nein. Wir haben engen Kontakt zu unseren Nachbarn. Deren Kinder werden sogar vom Schulbus abgeholt, und auch die Post findet ihren Weg durch den Wald.»
Dass die Heiteren ein Funkloch ist, scheint kein Nachteil, sondern ein Aspekt mehr zu sein, der diesen Ort friedlich macht. Draussen um das Haus geniessen die Hühner ihren Auslauf. Rehe seien häufige Besucher hier, besonders in der Abenddämmerung, verrät Rahel Schönthal. «Einmal fand sogar eine Schleiereule den Weg auf die Heiteren und wirkte durch ihr helles Gefieder und den lautlosen Flug wie ein Gespenst, ich bin fast etwas erschrocken.» Wir betreten die Wohnung im oberen Stock des Jagdschlösschens und begeben uns ins Wohnzimmer, wo bereits ein Tee wartet. Egal, aus welchem Fenster man schaut, überall blickt man ins Grüne, in die Bäume. Der Ort strahlt eine unglaubliche Gemütlichkeit aus.

Rahel Schönthal in ihrem Haus. – Bild: Walter Winkler
Rahel Schönthal in ihrem Haus. – Bild: Walter Winkler

Rahel Schönthal versucht, möglichst vieles aus dem Wald auf den Esstisch zu bringen. Dazu hat sie ein spezielles Kochbuch. Mittlerweile kennt sie manche essbare Pflanzen und sammelt sie. «Im April sind die Buchenblätter besonders fein. Bisher haben die Wildpflanzen-Salate meinen Gästen immer geschmeckt.» Für unsere Urvorfahren, die Sammlerinnen und Jäger, war das alles selbstverständlich – mit Ausnahme der Salatsauce natürlich. Sie pflanzten nichts an, sondern assen, was ihnen die Wälder und Bäche anboten. Die Bäume schützten sie auch vor der Sonne, starken Winden und wilden Tieren. Sie lebten in diesem Sinne im Paradies. Die meisten Zivilisationsmenschen haben viel Wissen und Können verloren. Es gibt aber wieder eine Bewegung, die naturgemässer und gesünder leben will.

Die Ruhe liegt nah

In der Abendstimmung gehen wir durch den immer noch lichtdurchfluteten Wald zurück. Nach kurzer Zugreise werden wir am Bahnhof Bern von den Menschenmassen des feierabendlichen Pendlerverkehrs wieder verschluckt.

Rahel Schönthal mit den UND-Mitarbeitern Sarah Hämmerli und Jürg Krebs. – Bild: Walter Winkler
Rahel Schönthal mit den UND-Mitarbeitern Sarah Hämmerli und Jürg Krebs. – Bild: Walter Winkler