Zweimal Christsein

Unsere beiden Autoren haben zwei unterschiedliche Beziehungen zu Gott. Was ihnen die Bibel und der Glaube bedeuten, versuchen sie im Dialog zu ergründen. So überbrücken sie Differenzen, ohne dabei die Unterschiede zu verwischen.

Blick in die Schrift: Werner Kaiser und Jonas Eggenberger lesen sie auf unterschiedliche Weise.-Bild: Marine Collardot

Mit der Bibel glauben

Werner: Jonas, du bist vor noch nicht so langer Zeit in einer bewussten Entscheidung Christ geworden. Kannst du mir sagen, wie es dazu kam?

Jonas: Ich interessiere mich bereits seit etwa sechs Jahren für Ansichten, die über wissenschaftliche Fakten hinausgehen, so zum Beispiel über das Leben nach dem Tod. Eine offensichtliche, wenn auch nicht die einzige Quelle zur Beantwortung solcher Fragen ist die Bibel, weshalb ich mich auch mit diesem Buch auseinandergesetzt habe. Dies sowie Gespräche mit gläubigen Christen haben mir geholfen, den christlichen Glauben kennenzulernen und zu verstehen. Vor etwa zwei Jahren habe ich mich schliesslich bewusst für diese Ansicht entschieden.

Werner: Ich spüre gut, dass dir das Christsein eine Herzensangelegenheit ist. Nun, das Christentum ist ein weites Gebiet. Was ist dir besonders wichtig?

Jonas: Grundlegend und folglich besonders wichtig ist für mich der Glaube an einen allmächtigen Gott, eine übermenschliche Macht, die in der Lage ist, das Geschehen der Welt zu lenken und die zudem ihre Schöpfung, die Menschen, liebt. Diese liebende Macht ist der Ursprung von allem und somit durchgehend rein. Durch einen Blick in die Welt zeigt sich jedoch, dass die Menschen diese Reinheit nicht teilen und deshalb kaum in der Gegenwart Gottes existieren können.

Zentral ist für mich nun die Tatsache, dass Gott sich in Form von Jesus selbst aufopferte, um das mutwillige Abweichen der Menschen von seinem Willen, und somit seiner Reinheit, auszugleichen. Dies erscheint auf den ersten Blick etwas unlogisch – wie ist so etwas möglich?

Oft wird das Bildnis einer Strafe verwendet, die die Menschen für ihre Vergehen treffen muss, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Da Gott die Menschen liebt, nimmt er diese Strafe auf sich, um die Menschen ungeachtet ihres Missverhaltens davor zu bewahren. Für mich ist dies lediglich ein Gleichnis, das einen komplexen Sachverhalt auf eine begreifbare Stufe reduziert, um das Verständnis zu erleichtern. Bei der menschlichen Unreinheit handelt es sich um eine unausweichliche Folge des Missbrauchs des uns geschenkten eigenen Willens und in dem Sinne nicht um eine Strafe.

Das Annehmen der Reinheit, die Jesus uns ermöglicht, definiert mich sowohl als Christ als auch als erlösten Menschen und ist das Wichtigste in meinem Leben.

Werner: Mir scheint, du hast sehr klare Vorstellungen vom Christsein. Woher kommen diese Vorstellungen? Hast du sie selber entwickelt? Hast du sie von andern übernommen?

Jonas: Diese Vorstellungen entspringen der Bibel und wurden schliesslich von meinen eigenen Erfahrungen bestätigt. Es handelt sich dabei kaum um exakte Wortlaute, in die ich meinen Glauben setze, sondern um die Gesamtaussagen der Geschichten, die in der Bibel stehen. Diese zu verstehen oder daran zu glauben, sind allerdings zwei sehr verschiedene Dinge. Während also diese Vorstellung an sich äusseren, sichtbaren Einflüssen entspringt, kommt der Glaube daran davon, wie ich diese Ansicht selbst in meinem Leben erlebt und wahrgenommen habe. Ich behaupte, die Kraft des uns zuteil gewordenen Geschenkes gespürt und kennengelernt zu haben, auch wenn dies sehr abstrakt klingen mag.

Werner: Magst du etwas dazu sagen, wie du das gespürt und kennengelernt hast?

Jonas: Es handelt sich dabei um das sichtbare und spürbare Wirken von Gottes Kraft in Form von körperlicher sowie geistiger Heilung, Eingebungen und Eindrücken oder lediglich als wahrnehmbare Präsenz im Alltag. Derartige Erlebnisse sind für mich seit meiner bewussten Entscheidung für meinen Glauben erkennbar. Vorher war der Glaube für mich Spekulation, jetzt handelt es sich um eine bestätigte Wahrheit.

Für Jonas Eggenberger ist die Bibel Richtschnur fürs Leben.-Bild: Marine Collardot

Vom äusseren Katholizismus zur Innenerfahrung

Jonas: Inwiefern hast du dich in deiner Überzeugung vom Katholizismus und der Bibel entfernt?

Werner: Zuerst einmal: Ich bin noch Mitglied der katholischen Kirche und ich lese noch fast täglich einen Abschnitt aus der Bibel. Entfernt habe ich mich vom Anspruch meiner Kirche, dass ihre Lehren zeitlose und unveränderbare Gültigkeit haben. Was die Bibel betrifft, ist sie für mich eine Sammlung von Schriften, die auf die heutige Zeit hin gedeutet werden müssen.

Jonas: Nimmt man die Bibel wörtlich, so ist Jesus für die Sünden der Menschen gestorben. Beinhalten deine Deutungen der Bibel die Erlösung der Menschen durch Jesus?

Werner: Wenn wir die Bibel wörtlich nehmen, ist klar: Jesus hat uns durch seinen Kreuzestod mit Gott versöhnt und von unsern Sünden erlöst. Und es gibt keinen andern Weg als Jesus. Doch schon die Evangelisten haben das Schicksal Jesu auf die Situation ihrer Gemeinden hin gedeutet. Ich betrachte die Deutungen der Bibel als zeitbedingt und erlaube mir, eine Deutung zu finden, die in unsere Zeit passt.

Nun zur Frage der Erlösung. Erlösung setzt Erlösungsbedürftigkeit voraus. Davon spricht in symbolischer Form die Geschichte vom Sündenfall. Im tieferen Verständnis geht es dabei nicht um individuelle Verfehlungen, sondern um das Verständnis der menschlichen Existenz. Die Tradition spricht von «Ursünde». Damit ist wohl gemeint, dass der Mensch grundsätzlich, von seinem Wesen her, der Erlösung bedarf. Er hat vom «Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen» gegessen, das heisst, er ist sich seiner selbst bewusst geworden, er kann nun zwischen Gut und Böse unterscheiden. Damit hat er «seine Unschuld verloren». Er erfährt den Abgrund des Bösen in sich. Er leidet an der Spannung zwischen dem Menschen, der er sein könnte, und jenem, der er ist. Er erlebt die Verführung zum Haben- und Gelten-Wollen, er stösst an die Unfähigkeit, eine gerechte Welt zu gestalten. Aus dieser Not muss der Mensch erlöst werden.

Erlösung durch Jesus heisst dann für mich: Wenn ich mich auf den Weg begebe, den Jesus vorgezeichnet hat, vor allem durch ein Leben in grenzüberschreitender Liebe, wird meine «Urspaltung» überbrückbar. Nicht im Sinn naiver Glücksvorstellungen, sondern in der nüchternen Zuversicht und Freude, dass trotz «Urspaltung» ein konstruktives und sinnerfülltes Leben möglich ist.

Jonas: Deine Vorstellung vom Christsein hat sich offensichtlich stark verändert – warum?

Werner: Anfangs war ich einfach katholisch. Es gab Zweifel, aber ich fühlte mich im grossen christlichen Zusammenhang geborgen. Mit beginnendem Erwachsenenalter überkamen mich Zweifel. Ich begann, Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftler zu lesen, in der Hoffnung, die «Wahrheit» zu finden. Eines Tages, ich war 21, stand ich plötzlich auf der Strasse still und wusste: Denken kann dem Leben keinen Sinn geben, auch nicht das Denken christlicher Inhalte. Ich war erschüttert, erlebte aber dabei das Wirken einer Instanz in mir, die klüger ist als ich selber, eine Art Intuition, der ich mich anvertrauen kann. Die Bibel würde hier wohl vom Wirken des Heiligen Geistes sprechen. Seither orientiere ich mich immer weniger an äusseren Autoritäten wie Papst oder Bibel, sondern versuche, achtsam zu sein auf alles, was mich im Innern bewegt, was mir als bedeutend und wegweisend aufgeht. Um diesen Kern herum interpretiere ich die Aussagen der Bibel. In diesem Sinn verstehe ich mich immer noch als Christ. ☐