«Armut in der Schweiz ist eine andere als in Haiti»

In der Schweiz leben viele Menschen in Armut. Die Politik ist gefordert. Die Digitalisierung bringt neue Fragen mit sich. Ein berührendes Gespräch mit Hugo Fasel, dem Direktor der Caritas Schweiz.

Interview: Tabea Arnold (23), Mitarbeit: Werner Kaiser (79)

«Armut wirkt stigmatisierend.» Der Direktor von Caritas, Hugo Fasel, beim Interview in Luzern. – Bild: Miriam Weber

Herr Fasel, warum engagieren Sie sich für die Schwachen in unserer Gesellschaft?
Hugo Fasel: Das ist eine Grundhaltung. Es gibt Menschenrechte und es gibt die unverhandelbare Menschenwürde. Mein Engagement entspricht dieser Wertehaltung. Diese ist unumstösslich – unabhängig von Religion, Hautfarbe und Kultur.

Sind Sie deshalb Direktor der Caritas geworden?
Bei der Caritas bin ich seit 10 Jahren, vorher arbeitete ich 17 Jahre mit der gleichen Wertehaltung in der Politik. Dazu kommen noch über 20 Jahre gewerkschaftliche Tätigkeiten. Da konnte ich dazu beitragen, dass jeder Mensch ein gesichertes Auskommen hat und nicht aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen wird.

Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die grössten Herausforderungen für die Caritas?
Die Palette ist breit. Die neue Herausforderung in der Schweiz ist die Armut. Die Statistiken zeigen, dass sieben Prozent der Bevölkerung in der Schweiz von Armut betroffen sind. Als die Caritas dies vor einigen Jahren thematisierte, lehnte man dieses Thema anfänglich ab. Doch heute hat der Bundesrat eingesehen, dass die Schweiz ein wachsendes Armutsproblem hat. Es gibt Leute, die unter dem Existenzminimum leben müssen. Alleinerziehende Eltern sind besonders hart betroffen. Nun kommt die Digitalisierung dazu. Geeignete Arbeitsplätze zu finden wird dadurch noch schwieriger. Was kommt da auf uns zu? Was machen wir damit?

Hugo Fasel (62) stammt aus dem Kanton Freiburg. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter, die beide bei Caritas mitwirken. Nach dem Studium der Ökonomie und einer Tätigkeit als Assistent an der Universität Freiburg wurde er 1986 Zentralsekretär des christlich-nationalen Gewerkschaftsbundes der Schweiz. Von 1991 bis 2008 war er CVP-Nationalrat. 2008 wurde er zum Direktor des Hilfswerkes Caritas Schweiz gewählt. – Bild: Miriam Weber

Und wenn Sie an internationale Schwierigkeiten denken?
Neu in der Entwicklungszusammenarbeit ist die Klimafrage. Die Veränderung des Klimas wird die Fortschritte in einigen Regionen mindern. Zum Beispiel Ostafrika ist heute schon stark unter Druck. Wir haben bereits vor Jahren systematisch angefangen, in diesen Ländern Klimaprojekte zu realisieren. Die Armutsbetroffenen können sich nicht wehren, sie sind den Bedrohungen ausgeliefert. Bauern, auf deren Feldern nichts mehr wächst, weil das Land überschwemmt oder der Boden vom Wind abgetragen wurde, können sich nicht wehren.

Welches ist Ihre Forderung an die Politik in der Schweiz?
Wir dürfen uns nicht allein darauf beschränken, einer Person, die in der Armut steckt, mehr Geld zu geben. Armut hat Ursachen, und man muss an den Ursachen arbeiten. Die Digitalisierung kommt Schritt für Schritt, wir haben Zeit, uns anzupassen. Das sind Gestaltungsaufgaben für die Politik. Wir müssen sicherstellen, dass wir eine Gesellschaft sind, an der alle teilnehmen können. Es ist nötig, sich mit solchen Entwicklungen auseinanderzusetzen und die notwendigen Massnahmen zu ergreifen.

Sie haben keine Freude an der momentanen Sparwut in der Politik?
Ja, das habe ich tatsächlich nicht. Der Kanton Bern hat die Leistungen für die Armutsbetroffenen reduziert und will sie noch mehr reduzieren. Der gleiche Kanton hat vor Jahren systematisch Steuern gesenkt. Und wo spart er nun? Bei den Armutsbetroffenen. Den Preis für Steuersenkungen zahlen die Ärmsten in unserer Gesellschaft. Diese Situation ist auch der Keim von gesellschaftlichen Konflikten. Sie treibt Armutsbetroffene, die sich verloren vorkommen, zu extremen Lösungen. Das sind schleichende Entwicklungen, welche fast nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Schweiz ist immer davon ausgegangen, dass alle vom Wirtschaftswachstum profitieren sollten. Das ist heute nicht mehr so. Es gibt zunehmend Leute, die auf der Strecke bleiben. Gegenwärtig werden jährlich 40‘000 Leute ausgesteuert. Sie sind nicht mehr in der Arbeitslosenkasse. Sie verschwinden aus jeder Statistik. Wenn Sicherheit für den Menschen nicht gegeben ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass diese Verunsicherung an anderen Gruppen ausgelebt wird. Das ist auch eine Quelle der Fremdenfeindlichkeit. Wenn wir nicht zu einem einigermassen fairen Ausgleich zwischen Arm und Reich Sorge tragen, riskieren wir unsichere Existenzen, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit.

«Die Armut wirkt stigmatisierend», meint Hugo Fasel. – Bild: Miriam Weber

Erreicht also die aktuelle Armutspolitik die Ziele nicht?
Bis jetzt hat der Bundesrat keine konkreten Massnahmen zur Bekämpfung der Armut getroffen. Sein Armutsprogramm umfasst neun Millionen Franken, verteilt auf vier Jahre. Der Bund stellt sich auf den Standpunkt, dass die Armutspolitik Sache der Kantone ist. Es wird künftig die grosse Frage sein, ob sich der Bund auch engagieren muss. Zurzeit zeigt er ja sogar gegenteilige Bestrebungen. Bei den Ergänzungsleistungen zur AHV wird über eine Reduktion nachgedacht. Unsere Aufgabe ist es, immer wieder mit aller Deutlichkeit und Kraft darauf hinzuweisen.

Armut ist ein Tabuthema. Warum? Würde es Betroffenen helfen, mehr auf sich aufmerksam zu machen?
Es ist extrem schwierig, jemanden sichtbar zu machen, der in Armut steckt. Die Armut wirkt stigmatisierend. Armut ist in unserem Verständnis weitgehend selbstverschuldet. Das ist der Grund, warum sich die Leute verstecken. Wenn der Makel der Armut öffentlich wird, kann das bei einer Bewerbung zur Abweisung führen. Wenn jemand öffentlich zur Armut steht, muss er oder sie eng begleitet werden.

Inwiefern spielt der kirchliche Hintergrund der Caritas bei Ihren Tätigkeiten eine Rolle?
Dieser Hintergrund ist unser Fundament. Das soziale Handeln kommt bei der Caritas aus dem katholischen Milieu, basierend auf dem Evangelium. Es handelt sich um Grundwerte, die nicht umgestossen werden können. Es bestehen Vorgaben der Kirche. Doch die Caritas Schweiz ist ein eigenständiger Verein.

Häufig hört man, dass Hilfsprojekte mehr schaden als nützen. Hilfe aus dem Westen wird als süsses Gift bezeichnet, welches Menschen in Abhängigkeit hält. Ist das einfach schlechte Entwicklungshilfe?
Ich bin froh um solche Fragen. Lange hat man Entwicklungsarbeit bedenkenlos als gut und richtig angeschaut. Heute wird sie genau analysiert. Wenn ich ein Projekt realisieren will, muss ich es mit den Betroffenen selber entwickeln. Ich muss genau prüfen, welche Wirkungen ich damit erziele und ob sie nachhaltig sind. Nach einem Erdbeben genügt es nicht, fertige «Hüsli» einzufliegen. Bei Caritas bekommen die Menschen nur ein Haus, wenn sie Hand anlegen und wissen, wie man ein Haus baut. Die Stärke unserer Organisation ist, dass wir in Kontakt mit den Menschen vor Ort stehen.

Hugo Fasel: «Solche Fragen beantworte ich nicht». – Bild: Miriam Weber

Könnte es bei der Caritas nicht einmal heissen: «Switzerland first»? Zuerst die Probleme im eigenen Land lösen und dann erst im Ausland helfen?
Das ist ein Kategoriendenken, das bei Caritas nicht existiert. Wir haben einen Inland- und einen Auslandteil. Unsere Leute schätzen sehr, dass wir an beiden Orten präsent sind. Das ist übrigens auch vorteilhaft. Armut in Haiti ist eine andere Armut als in der Schweiz.

Hugo Fasel, zum Schluss ein Blick in die Kristallkugel: Wie sehen Sie die Zukunft? Sind Sie positiv eingestellt?
Solche Fragen beantworte ich nicht. Ich stelle mir diese Fragen auch gar nicht. Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Unser Auftrag ist, dazu zu schauen, dass Menschen zur Gesellschaft gehören, dass sie ein normales Auskommen haben und integriert sind. An jedem Tag, in jedem Jahr, in jedem Jahrzehnt stellen sich diese Fragen neu. Es ist faszinierend zu erleben, was sich in der Gesellschaft tut. Ich weiss eine Menge über die Gesellschaft in der Schweiz und in andern Ländern wie beispielsweise jetzt im Nahen Osten. Es fordert einen immer wieder heraus – und das ist ermüdend. Doch das ist kein Grund für Pessimismus. ☐


Was macht die Caritas?

Caritas Schweiz ist eine Wohltätigkeitsorganisation mit Hauptsitz in Luzern. Sie steht unter dem Dach der Caritas Internationalis. Sie ist mit der römisch-katholischen Kirche verbunden, wirkt aber als selbständiger Verein. Sie ist in mehr als 200 Ländern in der Nothilfe, in der Entwicklungshilfe und in den Sozialdiensten tätig. In der Schweiz unterstützt die Caritas Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge vor allem im Auftrag der öffentlichen Hand. Regionale Caritas-Stellen setzen sich gegen die Armut in der Schweiz ein, unter anderem mit dem Caritas-Markt, der von Armut Betroffenen Lebensmittel günstig verkauft. Darüber hinaus trägt die Caritas dazu bei, dass dank ihren Studien und Positionspapieren gesellschaftliche Probleme wahrgenommen werden. wka


Wie arm ist die Schweiz?

2015 waren sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung von Einkommensarmut betroffen. Das sind rund 570‘000 Personen. Ungefähr ein Viertel davon war erwerbstätig. Am meisten betroffen waren Personen in Haushalten ohne Erwerbstätige (18,2 Prozent), Alleinerziehende (12,5 Prozent) und Personen ohne nachobligatorische Schulbildung (10,9 Prozent). Personen ab 65 Jahren wiesen ebenfalls eine überdurchschnittlich hohe Armutsquote auf (13,9 Prozent der Rentner), insbesondere, wenn sie alleine lebten (22,8 Prozent). Allerdings konnten viele von ihnen auf Vermögen zurückgreifen. Auch AusländerInnen aussereuropäischer Herkunft waren mit 11,7 Prozent deutlich mehr betroffen als die Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2015 betrug die Armutsgrenze in der Schweiz durchschnittlich 2239 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3984 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren. wka
Quelle: Statistisches Jahrbuch der Schweiz

Das Tandem Werner Kaiser und Tabea Arnold in Luzern bei der Caritas. – Bild: Miriam Weber

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