«Es kann nicht alles gerecht verteilt werden aber…»

Wenn ein Experte wie Peter Siegenthaler, früherer Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, Auskunft gibt, gilt es gut zuzuhören. Über Fragen zur Bankenkrise, zur Globalisierung oder zur Zukunft unserer Währung.

Corina Gall (25), Heinz Gfeller (68)

«Meine härteste Zeit»: Peter Siegenthaler über das Swissair-Grounding. – Bild: Elias Rüegsegger

«Ich war nicht der Richtige, um irgendwo in einem internationalen Konzern zu arbeiten. Ich konnte hingegen zu dem, was ich beim Bund gemacht habe, immer stehen. Ich musste mich kaum je verbiegen.» Wenn Peter Siegenthaler seine Engagements aufzählt, die vergangenen und die, welche er heute noch ausübt, entsteht eine lange Liste: Er war und ist Verwaltungsrat bedeutender Schweizer Unternehmen, ist Stiftungsrat, war Präsident des Verbandes der Kantonalbanken und Lehrbeauftragter für Finanzpolitik und -management an der Uni Bern. Seinerzeit stellte das ein 130-150 Prozent-Pensum dar; heute sind es noch knapp 50 Prozent – und er meint dazu, man sollte dafür sorgen, dass die Leute auch nach der Pensionierung noch tätig bleiben könnten, ein allmählicher Abbau sei zuträglicher.
Peter Siegenthaler ist Ökonom und hat an der Uni Bern studiert. Anschliessend hat er seine Tätigkeit beim Bund aufgenommen. Der Finanzverwaltung ist er treu geblieben, weil er da immer neue Aufgaben gefunden oder erhalten hat. Ab 2000 wirkte er zehn Jahre als deren Direktor. Einer seiner Kernaufträge war der Finanzausgleich. Zweimal musste er Krisenmanagement leisten – «meine härteste Zeit». Zuerst ab 2001 beim Untergang der Swissair. Diese Krise traf die Behörden unvorbereitet. Sollte der Staat eingreifen? Wenn ja, wie, wurde heftig diskutiert. Im Aufbau der neuen Fluglinie und in den Verhandlungen mit der Lufthansa, ohne die die Swiss wohl nicht überlebensfähig gewesen wäre, erwies sich einmal mehr: Geld ist Macht.
Lehren wurden gezogen: Für zukünftige Krisen, etwa die einer Grossbank, bereiteten sich die zuständigen Stellen (Bankenkommission, Nationalbank und Finanzverwaltung) ab 2002 intensiv vor. Der Zeitpunkt einer Krise lasse sich selten voraussehen, selbst durch Experten nicht, findet Peter Siegenthaler. Es war klar, dass man die Grossbanken nicht fallen lassen konnte. Dank den Vorarbeiten konnte 2008 dem Bundesrat ein fixfertiger und erfolgreicher Plan zur Rettung der UBS vorgelegt werden.
Peter Siegenthaler betont: Nur die Exekutive kann so etwas durchführen, das zuständige Parlament kann das ihm Vorgelegte nur absegnen, was staatspolitisch nicht unproblematisch ist. Und entscheidend für den Erfolg des Krisenmanagements ist das Vertrauen unter den Beteiligten.

Im Interview: Peter Siegenthaler. – Bild: Elias Rüegsegger

Ist die Arbeit in der Finanzverwaltung für einen SP-Politiker wie Sie schwieriger als für andere?

Peter Siegenthaler: Ja und nein. Ich arbeitete zu Beginn unter zwei Sozialdemokraten im Finanzdepartement, Willy Ritschard und Otto Stich. Beide vertraten die Meinung, dass nur ein starker und finanziell gesunder Staat auch ein sozialer Staat sein könne. Wir setzten uns daher intensiv gegen eine zunehmende Staatsverschuldung ein, was letztlich (unter dem freisinnigen Bundesrat Kaspar Villiger) in der Schuldenbremse resultierte. Vor allem von Seiten der SP erhielt ich dafür Kritik.

Was stört Sie an Weltkonzernen oder an grenzenlosem Freihandel?
Die Frage der gerechten Verteilung. Es leuchtet ein, dass nicht alles gerecht verteilt werden kann, aber in den letzten Jahren spitzte sich die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen konstant zu. In der Schweiz hielt sich diese Entwicklung, verglichen mit den weltweiten Zahlen, jedoch bisher glücklicherweise in Grenzen.

Bild: Elias Rüegsegger

Wodurch wird die ungleiche Verteilung der Vermögen geschaffen?
Heute zu einem grossen Teil durch die zunehmende Globalisierung. Sie kreiert Wachstum, jedoch auf Kosten einer gerechten Verteilung. Ein Vorteil der Globalisierung sind die billigeren Arbeitskräfte, die mobilisiert werden können. Damit kreieren Staaten und Unternehmen aber einen Lohndruck. Irgendwann stösst man an eine Grenze, wo der negative Effekt in Richtung einer noch ungleicheren Verteilung grösser ist als die gewonnene wirtschaftliche Wertschöpfung.

Sind geschlossene Grenzen die Lösung?
Ich bin kein Isolationist oder Anhänger von Initiativen wie «America first». Vor allem die Schweiz kann viel verlieren, wenn sie die Grenzen schliesst und die internationale Arbeitsteilung zurückfährt. Wir dürfen es jedoch mit der Globalisierung auch nicht übertreiben. Der amerikanische Ökonom Dani Rodrik beschreibt das «Globalisierungsparadox» (siehe Buchtipp): Es sei nicht möglich, dass ein Staat Hyperglobalisierung, Demokratie und einen starken Nationalstaat zugleich habe. Tendenziell setze ich mich für demokratische Rechte und einen unverzichtbaren Rest an nationalstaatlicher Souveränität ein.

Führt die Schweiz eine vernünftigere Geldpolitik als andere Länder?
Ja und nein. Ich halte viel von unserer Nationalbank. Wir haben aber ein Problem: Die Schweiz ist eine kleine, aber sehr offene Volkswirtschaft. Wird unsere Währung zu stark, kann die Wirtschaft nicht mehr exportieren. Daher musste die Nationalbank in den vergangenen Jahren eine stark am Wechselkurs orientierte Geldpolitik betreiben. Dies führte dazu, dass sich viele Schweizer Franken im Markt befinden. Die Bilanz der Nationalbank wurde enorm ausgeweitet. Den Umlauf an Schweizer Franken wieder zu verringern wird ein schwieriger Prozess sein.

Wie viel Freiheit soll der Nationalbank zugesprochen werden?
Nationalbanker in der Schweiz sagen, dass Notenbanken mit starker Unabhängigkeit Inflationen besser bekämpfen konnten. Die Preisstabilität ist auch heute noch das oberste Ziel der Nationalbank, aber die Teuerung ist weniger ein Problem. Die Politik muss der Nationalbank einen Auftrag geben, aber bei der Wahl der Mittel sollte die Institution frei sein. Die Politik hat ein Interesse, dass die Nationalbank – als Notenbank – möglichst viel Gewinn macht und an den Staat abliefert, aber das soll nicht ihr Ziel sein.

Was muss eine Nationalbank denn gegenüber der Politik erfüllen?
Sie hat eine Rechenschaftspflicht. Sie muss transparent und offen darlegen, wie sie ihren Auftrag umgesetzt hat. Sie muss sowohl Erfolg als auch Misserfolg offengelegen. Aber sonst sollte man sie vor einem zu starken Einfluss der Politik verschonen.

«Die Nationalbank muss transparent gegenüber der Politik sein», sagt Peter Siegenthaler. – Bild: Mariëlle Schlunegger

Die Nationalbank hat ja auch einen Einfluss auf die Bargeldmenge im Umlauf. Werden wir es abschaffen?
Ehrlich gesagt halte ich davon nicht viel. Die Idee ist aufgekommen, weil sich Zentralbanken mehr Spielraum mit den Negativzinsen verschaffen wollten. Wenn die Zentralbanken die Zinsen noch stärker in den negativen Bereich drücken, werden die Leute ihr Geld irgendwann nicht mehr auf der Bank deponieren, sondern als Bargeld horten. Dies könnte der Staat mit der Abschaffung des Bargeldes verhindern – wohl zu Lasten von uns allen.

Haben wir Schweizer eine emotionalere Beziehung zu unserer Währung als andere europäische Länder?
Eine Abstimmung über den Beitritt in die Eurozone und damit über die Abschaffung des Schweizerfrankens wäre in der Schweiz jedenfalls kaum zu gewinnen. Aber das hat man damals auch bei den Deutschen gesagt. Es gibt jedoch einen grossen Unterschied: Ein Deutscher, der vor 1923 zur Welt kam, hat zwei Mal sein ganzes Erspartes verloren: bei der Hyperinflation 1923 und bei der Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg. Das bricht den Glauben an die eigene Währung. Mit dem Schweizer Franken haben wir so etwas nie erlebt. Daher hängt – und vielleicht nicht zu Unrecht – der Schweizer noch etwas mehr an seiner Währung.

Ist die Bevölkerung der Schweiz bei Abstimmungen, welche Geldfragen betreffen, besonders rational?
Ich glaube, jeder andere Stimm- und Wahlkörper wäre überforderter als die Schweizer Bevölkerung. Wenn man Deutschen erklärte, worüber wir abstimmen, würden die wahrscheinlich sagen, dass sie das nicht könnten. Die Schweizer besitzen einen gesunden Menschenverstand. Dass wir bei Geldfragen egoistisch denken, geht für mich in Ordnung. Die Leute sollen sich überlegen können, ob gewisse Änderungen für sie überhaupt noch tragbar sind. Im Fall der AHV jedoch müssen wir die Kurve kriegen und eine Lösung finden, die über die eigenen Vorteile hinausgeht.

«Die Vollgeld-Initiative ist ein Experiment.» – Bild: Elias Rüegsegger

Am 10. Juni stimmt die Bevölkerung über die Vollgeld-Initiative ab. Was wäre da ein rationaler Entscheid?
Die Initianten haben sich bei der Vorlage enorm viel überlegt. Ich glaube jedoch nicht, dass sie damit ihre versprochenen Ziele erreichen können. Die Initiative ist ein Experiment. Würde sie angenommen, wären wir ein Unikat auf der Welt. Die Initianten versprechen sich mehr Stabilität, aber mit einer Vollgeldlösung wäre die Finanzkrise 2008 nicht unbedingt verhindert worden. Diese Garantie hätte man auch in Zukunft nicht. So wären die Schattenbanken – die Finanzinstitutionen, die nicht offiziell als Banken agieren und an der Krise damals mitschuldig waren – davon nicht betroffen.

Kann das Experiment auch missraten?
Die Initiative schadet wohl den Banken. Ihre Kredittätigkeit beschränkt sich dann noch auf das, was die Bank aus Spargeldern finanzieren kann, und das Eigenkapital. Sichtdepositen müssten von Geldern der Nationalbank unterlegt werden, das schränkt den Spielraum der Banken ein. Die Nationalbank wird dadurch Dreh- und Angelpunkt der ganzen Kreditvergabe. Das will die heutige Führung der Nationalbank nicht. Ich habe daher Zweifel, ob wir ein solches Experiment angehen sollten. Die Vollgeldinitiative will, dass das von der Nationalbank geschaffene Geld schuldlos an Bund und Kantone verteilt wird. Das ist eine gute Idee, so lange zusätzliches Geld geschaffen wird. Und wenn Liquidität abgeschöpft werden muss? Das in öffentliche Projekte investierte Geld kann man nicht einfach wieder zurücknehmen.

«Ich habe solche ‚beste Banker‘ kennengelernt»: Peter Siegenthaler kritisiert die hohen Saläre – zum Beispiel bei der UBS. – Bild: Mariëlle Schlunegger

Die Banken sind nach der Krise 2008 auch wegen den hohen Managerlöhnen in Kritik geraten. Sollte die Politik eingreifen?
Ich habe kein Verständnis für diese Löhne. Es wäre toll, wenn die Bank-Branche eine gewisse Demut zeigen würde. Eine staatliche Regulierung ist wahnsinnig schwierig. Wo nimmt der Staat die Weisheit her, was der richtige Lohn ist? Die Abzockerinitiative hat zwar einen grossen administrativen Aufwand zur Folge, aber in Richtung einer Mässigung nichts Entscheidendes bewirkt. Es braucht einen starken öffentlichen Druck.

Warum sollte die Branche die Löhne nicht, wie die meisten anderen, selbst bestimmen?
Sergio Ermotti, CEO der UBS, sagte kürzlich bei einer öffentlichen Veranstaltung in London: Wenn unsere Banken die besten Leute wollen, müssen sie auch die entsprechenden Saläre bezahlen. Ich habe solche «beste Banker» kennengelernt, nachdem sie die UBS an die Wand gefahren hatten. Einer der Mechanismen, die zur Finanzkrise geführt haben, war, dass die Banker, um ihre Saläre zu rechtfertigen, den Aktionären hohe Eigenrenditen versprechen mussten. Diese erreicht man als Bank jedoch nur, wenn man volles Risiko eingeht. Am Ende trägt dieses Risiko der Staat, wie wir 2008 bei der Bankenrettung gesehen haben. ☐

Buchtipp von Peter Siegenthaler: Dani Rodrik: Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. C.H. Beck-Verlag, 2011.


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