Haben oder Sein ein Dialog über ganz grundsätzliche Frage

Umfasst «Haben» nur Besitz und Konsumzwang oder auch Glaubenssätze, Ideen und Gedanken? Ist «Sein» das Ziel des Lebens, die Motivation, welche uns antreibt? Schliessen «Haben» und «Sein» einander aus?

Marianne Senn (65), Stefanie Strauss (36)

Marianne: Es ist einfach zu sagen, «Sein» ist mir wichtiger als «Haben», wenn man in gesicherten Verhältnissen lebt. Die Freiheit, sich aufs «Sein» zu konzentrieren, ist ja erst dann möglich, wenn man nicht tagtäglich für das eigene Überleben kämpfen muss. Der Begriff «Haben» verbindet sich meist mit materiellen Vorstellungen. Nebst dem Besitzen von Gütern scheint mir der heutige Konsumzwang auch eine Form des Strebens nach Besitz.
Negativ finde ich, wenn Menschen hauptsächlich gemäss ihrem finanziellen Erfolg eingeschätzt werden, wie ich es öfters erlebte. Unser aller Ziel kann doch nicht nur sein, dass es jeder vom Tellerwäscher zum Multimillionär schafft, sondern vor allem, dass jeder sein Leben sinnvoll gestalten kann. Zu «sein» bedingt Unabhängigkeit, Freiheit und vielleicht auch Kreativität, damit man seine Gaben ausleben, das eigene Ich erweitern und als Mensch wachsen kann.Ist es nicht so, dass die Anpassung an neue Umstände, die Fähigkeit, sich zu verändern und Neues zu lernen, zum Leben gehören? Hilfreich sind bestimmt Neugier, Interesse, Zuhören-Können und Freude am Teilen und Geben. Die aktive Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben kann auch zu Sinnhaftigkeit führen.
Meine Frage an dich, Stefanie: Was bedeutet «Sein» für dich? Was möchtest du «haben»?

Revolutionärer Denker: Erich Fromm postulierte bereits 1966 ein bedingungsloses Grundeinkommen. Er war überzeugt, dass ein garantiertes Einkommen das Bedürfnis nach spirituellen Erfahrungen mehr in den Mittelpunkt setzen würde. Real und bestimmend würden Fragen wie: «Was ist der Sinn des Lebens?», «Woran glaube ich?», «Welche Werte vertrete ich?», «Wer bin ich?». Gemäss der Einschätzung von Erich Fromm ist der Mensch unersättlich und passiv geworden und versucht seine innere Leere mit einem ständigen, stets wachsenden Konsum zu kompensieren. Fromm befürwortete eine Renaissance der humanistischen Werte des Lebens, des Individualismus, der Sensitivität und der Kreativität. – Bild Wikimedia Commons

Stefanie: Neulich im Zug. Junge Frau, etwa 25 Jahre alt mit hellbeigem, luftigem Wollmantel, spricht mit anderer jungen Frau, ähnliches Alter, über dies und das. Vor allem reden sie über ihre Partner, den Lohn ihrer Partner, das Haus der Eltern des einen Partners, ihre Masterabschlüsse und darüber, welche Art Haus sie einmal wollen. Weil ich meinen iPod vergessen habe, muss ich mir ihr Gespräch bis nach Bern Hauptbahnhof anhören. Ich frage mich, ob es im Leben dieser jungen Frauen noch andere Dinge gibt, die ihnen wichtig sind, ausser Geld, Karriere, ein Haus und dass sie hübsch angezogene Partnerinnen wohlhabender Männer aus wohlhabenden Familien sind. Dass sie im Zug von nichts anderem reden, muss ja nicht bedeuten, dass es nichts anderes gibt. Und doch – wenn ich ab und zu meinen iPod vergessen habe und den Menschen und ihren Gesprächen im Bus oder Zug lausche, dann scheint es mir allzu oft, dass die meisten von ihnen tatsächlich sehr stark auf Geld, ihren Job, ihren Lohn, ihre Partner und andere Dinge bedacht sind, von denen sie meist wie von Besitztümern oder selbstverständlichen Stationen im Leben reden – als ob es stets darum ginge, etwas zu besitzen, dann mehr davon zu besitzen als andere. Einen schöneren Freund, wohlhabendere Eltern, einen bedeutsamen (bedeutsameren?) Job.

«Etwas zu haben reicht vielen nicht», Stefanie Strauss. – Bild: Mariëlle Schlunegger

Denn etwas zu haben reicht vielen Menschen nicht, sie wollen auch immer mehr haben. Oft kommt mir dann eine Frage in den Sinn, die
Erich Fromm in seinem Werk «Haben oder Sein» stellt: «Wenn ich bin, was ich habe, was bin ich dann, wenn ich alles verliere, das ich habe?» Diese Frage hätte ich den beiden jungen Frauen gerne gestellt, wenn ich das nicht als zu unhöflich empfunden hätte. Im Gegensatz zu manchen Menschen sehe ich den Wert und die Würze des Lebens nicht in Dingen, akademischen Titeln oder dem Erreichen typischer Lebensstationen, wie einen Mann zu finden, Kinder zu haben, ein Haus zu kaufen. Mir bedeutet weniger, was ich habe, als was ich bin. Und unter dem Sein, nicht nur meinem, verstehe ich vor allem Da-Sein. Da zu sein im Sinne einer wachen, aufmerksamen Präsenz, als fühlendes, denkendes Wesen, das die Welt mit allen Sinnen erfasst und die Geheimnisse des Lebens zu ergründen sucht. Da-Sein bedeutet für mich zu leben. Berührt zu werden, bewegt. Zu träumen, zu hoffen, zu kämpfen, zu scheitern und wieder aufzustehen. Es bedeutet auch, mich vor den Stürmen des Lebens nicht zu verstecken (in Häusern oder hinter Titeln) und aufrichtig und mutig in die Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu treten. Da ich nicht nach Macht strebe, bedeuten mir all diese Dinge, mit denen wir uns über andere zu erheben versuchen, nur sehr wenig. Was ich mir wünsche, ist Resonanz: Ich will gesehen werden, berühren, als Mensch mit einer einzigartigen Geschichte verstanden werden und ich will anderen dasselbe zugestehen. Darum interessieren mich die Lebensgeschichten mit Brüchen und dunklen Zeiten mehr als die ewig gleichen Biographien vom Typ «Malen nach Zahlen». Mit dieser Einstellung fühle ich mich frei und lebendig. Ein menschliches Wesen zu sein, das mitfühlt, neugierig ist, berührt und bewegt werden kann, das kann mir niemand wegnehmen und gibt mir mehr, als all die Besitztümer, die manche Menschen anhäufen.
Meine Frage an dich, Marianne: Wie ändert sich das «Sein» nach der Pensionierung?

«Ich bin immer noch ich», Marianne Senn. – Bild: Mariëlle Schlunegger

Marianne: Nach der Pensionierung bin ich immer noch ich. Wesentliche Aspekte fallen jedoch weg. Ich hatte eine erfüllende Arbeit. Jetzt habe ich mehr Zeit, meinen Interessen nachzugehen, welche früher zu kurz kamen, und möchte auch geistig aktiv bleiben. Früher habe ich mich immer auf meinem Arbeitsgebiet weitergebildet und hatte einen regen Austausch mit KollegInnen im In- und Ausland. Nach der Pensionierung folgte ein bewusstes Loslassen. Jetzt war die Gelegenheit, mir Kenntnisse in anderen Fachgebieten anzueignen, Neues zu erkunden und mein Verständnis für aktuelle Erscheinungen zu erweitern. Die neuen Tätigkeiten bereiten mir Freude. Sei es ein Hobby, wie den Blumengarten pflegen, wo jede Blüte Staunen weckt, oder soziales Engagement. Hauptsache, es macht Spass.
Es ist jedoch auch so, dass man nach der Pensionierung anders wahrgenommen wird. Der Spruch: «Man ist, was andere in uns sehen» spielt schon eine Rolle. Hatte man beruflich eine Position, Einfluss und Anerkennung, so fällt dies nun weg. Da ich mich nie über meine Arbeit definierte, spielt dies für mich aber keine Rolle.
In meinem Umfeld konnte ich jedoch beobachten, dass es sehr schwerfallen kann, plötzlich nicht mehr Macht und Autorität zu haben oder bewundert zu werden. Schwierig wird es besonders, wenn der Abgang forciert wurde. Heute sind ja Entlassungen von älteren ArbeitnehmerInnen häufiger. ☐

H ülle
A ussen
B esitzen
E robern
N eid

S chöpfung
E rneuerung
I nnen
N atur

Gedicht von Wüstenvogel


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Geld regiert die Welt? Vielleicht – ganz sicher aber die Beiträge zu diesem Schwerpunkt. Die Redaktion hat sich im Frühling 2018 vertieft: In unser Geldsystem und ganz neue Ideen.