Wer suffizient lebt, ist Pionier in Genügsamkeit

Kirstin Schild (41) wirkte an einem Forschungsprojekt der Uni Bern mit, das sich mit dem suffizienten Lebensstil befasste. Dazu wurden sechzehn Personen interviewt, die diesen Lebensstil pflegen. Daraus entstand das Buch «Genug genügt. Mit Suffizienz zu einem guten Leben.»

«Ja, es wird einfacher»: Kirstin Schild über das suffiziente Leben. – Bild: Erika Kestenholz

Kirstin Schild, Warum haben Sie ein Buch über Suffizienz mitverfasst?
Kirstin Schild: Ich bin durch eine Freundin im Sport dazugekommen. Wir waren ein Dreierteam. Die beiden anderen hatten die Kernidee des Projekts bereits entwickelt. Ich konnte da mitarbeiten. Zuerst war das Endprodukt der Untersuchung für meine Dissertation vorgesehen. Wir kamen erst später auf die Idee, die Ergebnisse in Form eines Buches zu präsentieren.

Oft suchen Leute, die etwas publizieren möchten, verzweifelt nach einem Verleger…
Auch das bereitete uns keine Mühe. Der Verlag «oekom» war bald begeistert und bereit, das Buch herauszugeben.

Warum interessiert Sie das Thema?
Die Frage nach einem guten Leben hat mich im Studium und privat seit langem beschäftigt. Ich habe Philosophie studiert, als Lehrerin gearbeitet und eine Ausbildung in angewandter Ethik mit Schwerpunkt Umweltethik gemacht. Diese Kombination hat mich dazu gebracht, mich mit Nachhaltigkeit und Suffizienz zu beschäftigen.

Für das 2016 erschienene Buch wurden zahlreiche Leute zu ihrem suffizienten Leben befragt. – Bild: eke

Sie machten sich auf die Suche nach 16 suffizient lebenden Personen?
Ja, sie mussten einen Fragebogen ausfüllen und hatten strengen Kriterien zu entsprechen. Wir waren total überrascht, wie zahlreich sich die Leute meldeten und wie schnell wir unsere Interviewpartner fanden. Sie hatten Freude mitzumachen. Dabei ging es ihnen nicht um Selbstdarstellung, sondern um die Sache. Viele sagten, es sei ihnen während der Interviews noch einiges bewusster und klarer geworden. Das ganze Projekt ist also ein schönes Produkt auf allen Ebenen.

Verkauft sich das Buch?
Ja, wir sind erfreut und überrascht. Bibliotheken schaffen es an. Wir werden für Interviews angefragt. Die Zeit für ein Umdenken scheint reif zu sein.

Hat sich auch in Ihrem Leben etwas verändert?
Ja, schon. Zwar wollte ich nie Auto fahren. Umweltschutz war mir schon immer ein Anliegen. Ich esse seit langem kein Fleisch mehr. Jedoch gönne ich mir ab und zu schöne Kleider oder ein neues Täschli. Heute mache ich mir mehr Überlegungen dazu. Brauche ich das? Könnte ich etwas Gebrauchtes eintauschen oder kaufen? Und wenn ich etwas Neues kaufe, achte ich auf das Material und auf die Produktionsart, bezahle vielleicht mehr für ein Stück, aber brauche es mit Freude länger.

Kaufen Sie in Bioläden ein?
Nein, hauptsächlich beim Grossverteiler und nur ab und zu im Vatter oder Hallerladen, aber wenn möglich in Bioqualität. Seit kurzer Zeit bringt uns der «Öpfuchaschper» per Velokurier wöchentlich einen Korb mit Gemüse und Obst. Allerdings enthielt er letztes Mal Fenchel. Den hat niemand von uns gern. Wir suchten nach einem Rezept und siehe da, es schmeckte uns doch. Das ist also auch inspirierend und ergibt einen Mehrwert.

Sie gingen von der Annahme aus, dass ein suffizienter Lebensstil zu einem besseren Leben führt. Könnte es nicht auch umgekehrt sein?
Das ist eine gute Frage. Wir suchten nach Menschen, die bereits suffi-
zient leben. Klar kommt ein bisschen zur Sprache, wo das herkam, sei es das Umfeld in der Kindheit oder der Charakter. Sie suchen alle eher das Einfache und Ruhige, haben keine Lust auf Stress und Hektik. Doch ob sie zuerst suffizient und dann zufrieden oder erst zufrieden und dann suffizient waren, kann ich nicht beantworten. Was ich aber spannend finde, ist: Wir haben uns mit verwandten Ansätzen beschäftigt. Ein deutsches Forschungsprojekt hat einen Zusammenhang zwischen Achtsamkeitstraining und Kaufverhalten zu Tage gefördert. Wer innerlich ruhig und zufrieden ist, kommt wohl weniger auf die Idee, kompensatorische Käufe zu tätigen. Aber wissenschaftlich würde ich das nicht nennen.

Grafik: Hansruedi Käppeli

Wird das Leben so leichter?
Ja, es wird einfacher. Ich merke das zum Beispiel im Restaurant. Nur drei Vegimenus, und die Entscheidung ist im Nu gefallen.

Sollten alle suffizient leben?
Grundsätzlich: Ja. Eine so radikale Umstellung hätte zwar auch negative Auswirkungen, zum Beispiel würden Arbeitsplätze verloren gehen. Nach der Umstrukturierung wäre aber eine neue Normalität an der Tagesordnung, mit reduzierter und besser verteilter Arbeitszeit und dem bedingungslosen Grundeinkommen… Wer mehr selbst anpflanzt, braucht weniger Lebensmittel zu kaufen. Die Familie kommt auch mit nur einem Auto aus. Es gibt nicht zu wenig Essen auf der Welt, es ist nur falsch verteilt. Ähnlich verhält es sich bei der Arbeit. Es bräuchte halt einige grundlegende Veränderungen, aber danach würde das neue System bestens funktionieren können.

Wie sieht nun Ihr nächstes Projekt aus?
Wir arbeiten an Lehrmitteln für die Schule. Wir setzen auf Bildung für einen suffizienten Lebensstil. ☐


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