Haben wir brauchen wir Tabus

Geld, Sex, Tod – und die anderen: VertreterInnen von zwei Generationen tauschen ihre persönlichen Erfahrungen und ihre Sicht zu verschiedenen Tabu-Themen aus.

Geld, Sex und Tod – das sind oftmals Tabus. – Illustration: Manuel Meister
Geld, Sex und Tod – das sind oftmals Tabus. – Illustration: Manuel Meister

Heinz Gfeller (67)

Auf meine eigenen Überlegungen zu den Tabus hin habe ich das Gespräch mit zwei Generationen aufgenommen: Wie steht denn ein solches Konzept in unserer heutigen Welt?

In einer Runde hat sich meine Generation getroffen: Marie-Luise und Hans Graf (63/68) sowie meine Gattin Regina Anderegg (59); das zweite Gespräch habe ich mit Anna Berger (29) geführt.

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Brauchen wir Älteren das Wort «Tabu» überhaupt? Wenig; doch dass es ein gängiger Ausdruck ist, in den Medien, in politischen Zusammenhängen etwa, ist uns bewusst. Wir befinden uns in einem Spannungsfeld zwischen dem durchaus Geregelten – den Gesetzen – und dem vagen «Das gehört sich nicht» oder dem modernen «No-Go».
Hans erwähnt ein Beispiel aus seiner Gartenbaufirma: Kiffen während der Arbeit nennt er ein No-Go; es ist in Wahrheit ein Verbot, ein Kündigungsgrund.
Gesetze können nicht alles erfassen. Es muss darüber hinaus Dinge geben, welche unsere Gesellschaft – ähnlich jeder anderen – strikt ausschliesst; eine Gesellschaft ohne Tabus sei nicht denkbar, meint Marie-Luise. Andere erniedrigen, jemanden «fertigmachen», Bashing, Mobbing sehen wir als Beispiele für nicht Tolerierbares.
In der modernen Welt beängstigen uns die erweiterten Möglichkeiten zu solchen Missetaten: Die sogenannten sozialen Medien zielen verstärkt auf die Person, und sie verbreiten fragwürdige Ideen oder «Fakten» schnell und unkontrolliert.

Sex und Geld

Reden wir wirklich noch von «Tabus», so vor allem von Dingen, über die man nicht redet. (Nicht auf allen Gebieten sind sich die Älteren da freilich einig.)
Das Geld, Lohn und Vermögen? Da gibt’s Grenzen. Innerhalb der eigenen Branche redet man nicht davon. Ausländische Arbeiter untereinander ebenfalls nicht. Liegt es wohl daran, dass die finanzielle Schere sich immer weiter öffnet? Regina bringt ein Extrembeispiel vor: In ihrem Betrieb wurde den Angestellten verboten, ihre Löhne zu vergleichen – weil diese je nach Situation ungleich waren. Wer um seine Stelle bangte, hat sich an die Vorschrift gehalten.

Sprechen Singles über ihre Situation, ihre Beziehungen?

Die Sexualität, die eigene? Ziemliche Einigkeit: Darüber sprechen wir nicht, höchstens unter engsten Freunden; Frauen vielleicht etwas mehr. Volksbefragungen dazu, die publiziert werden, halten wir für unglaubwürdig. «Sprüche» machen, angeblich lockere Witze, das gibt’s überall; selbst unter Frauen.
Ein in unserem Alter vielleicht brennenderer Problembereich taucht auf: Sprechen Singles über ihre Situation, ihre Beziehungen? Nein, finden wir, die da allerdings Beobachtungen über Andere anstellen; natürlich ist deren Lage an sich schwierig.

Gelungene Tabubrüche?

Was sehen wir für erfolgreiche Entwicklungen, in denen Tabus gebrochen werden, enttabuisiert wird? Die Homosexualität ist ein solches Feld. Sie wird allgemein immer weniger tabuisiert; in gewissen Kreisen (etwa unter Künstlern) erscheint sie gar häufig, erregt kein Aufsehen mehr.
Es gibt durchaus Tabus, die den Menschen Schutz gewähren, meint Regina: So den Kindern vor Pädophilie. Wenn doch Schlimmes passiert und man nicht darüber redet, ist‘s allerdings wiederum schlimm. Was war in der Antike?, fragt Hans; da war offenbar Knabenliebe akzeptiert.

Darf ich über meinen Tod selber entscheiden? Und: Sprechen wir übers Sterben, den Tod?

Bei der Sterbehilfe, ja dem begleiteten Suizid erkennen wir deutliche Verschiebungen: Sie werden üblicher, organisierter, wohl auch besser akzeptiert. Durch erweiterte Möglichkeiten sinkt aber auch die Schwelle, und es kann unguter Druck auf Personen, vorweg die Alten, entstehen, findet Marie-Luise.
Darf ich über meinen Tod selber entscheiden? Und: Sprechen wir übers Sterben, den Tod? Offene Fragen.
Tabus sind von Gesellschaften, von Kulturen abhängig, da besteht Einigkeit.
Marie-Luise nennt ein Beispiel aus Kosovo: Stirbt ein Ehemann, so soll dessen Bruder die Witwe heiraten; das kann reibungslos funktionieren – traditionell waren Frauen und Männer klar getrennt.
Regeln wird es immer geben; in China zum Beispiel hat Konfuzius sie über die politischen Herrscher hinweg gesetzt. In unsern Regionen hat das Christentum sie verbreitet; doch es hat sie, so Hans, nicht erfunden; vielmehr erkennt er darin uralte Überlebensstrategien. Es bleibt mir die Frage: Wie steht’s um heutige Autoritäten, welche Rolle spielt da die Religion noch?

Eine junge Sicht

Amerikaner würden nicht darüber reden, wie sie wählen; sie würden auch nicht danach fragen. Roma-Kinder (in Ungarn) haben in ihrer Umgebung sicher schon einiges – auch Schreckliches – gesehen; sie machen auch Anspielungen auf sexuelle Themen. Doch sie haben fast keine echte Information dazu.
Dies sind zwei Beispiele für kulturelle Unterschiede, wie sie Anna, junge Gymnasiallehrerin mit internationalen Einblicken, aufführt.

Geld? Man redet gelegentlich darüber; ungefähr ist man ja über die Löhne der Andern im Bild.

Anna sieht das Wort «Tabu» besonders beim Thematisieren von unterschiedlichen Kulturen, in politischen und sozialen Zusammenhängen, eventuell in der Schule. Sie vergleicht es mit dem modischen «No-Go», welches sie aber deutlich individueller, weniger ethisch oder moralisch findet; sie bezieht Letzteres eher auf Verhaltens- als auf Denkweisen.

Geld – ein Tabu? – Bild: Elias Rüegsegger
Geld – ein Tabu? – Bild: Elias Rüegsegger

Im Rahmen von Schulen nun gibt’s eine ziemliche Breite: vom gedruckten Reglement über den mehr oder weniger ausgesprochenen Verhaltens-Kodex – Beispiel: Beleidigungen dulden wir nicht – bis zu persönlichen Einstellungen – «Kaugummis will ich nicht sehen». Kommt dazu, dass LehrerInnen immer wieder von neuen Erscheinungen überrascht werden.
Geld? Man redet gelegentlich darüber; ungefähr ist man ja über die Löhne der Andern im Bild. Worüber man indessen bestimmt nicht redet, sind finanzielle Schwierigkeiten. Man schämt sich, wenn’s ans Lebendige geht – weil’s mit (anscheinend fehlender) Leistung zu tun hat.
Sexualität? Sicher hat eine Entwicklung von einer Generation zur andern stattgefunden. Die Grosseltern hätten nicht darüber gesprochen. Die Eltern – die 68er – bemühten sich dagegen sehr um eine Öffnung. Und jetzt? So sehr anders als früher ist’s nicht. SchülerInnen sind unsicher, trotz der vielen Informationsquellen. Sie können zwar alles Mögliche konsumieren; in den sozialen Medien wird massiv enttabuisiert, enthemmt; doch die Jungen dürften nicht derart viel ausprobieren, ja auch nur selber ansprechen.
Zum Thema Tod: Angst vor dem Sterben haben doch alle; aber davon spricht man nicht.
Die grossen Themen bleiben, findet Anna. Es geht darum, Grundwerte aufrecht zu erhalten, etwa Rassismus zu bekämpfen, Minderheiten zu schützen. In diesem Sinn sind Tabus sinnvoll, ja notwendig.