Wil mir Hemmige hei

Mani Matter hat’s schon Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt: Wir sind eine gehemmte Nation. Wie gehen Alt und Jung mit ihren Unsicherheiten um und was tun sie, um diese zu überwinden? Ein hemmungsloser Austausch.

Werner Kaiser (78), Tanja Mitrić (22)

Tanja: Was hältst du von Mani Matters Aussage, dass nur unsere Hemmungen uns vom Schimpansen unterscheiden? Kannst du dich mit seinem Lied identifizieren?

Werner: So wörtlich möchte ich das wunderbare Lied doch nicht nehmen. Aber dass wir einen rechten Anteil Chaos und Unberechenbarkeit in uns tragen, der durch natürliche und gesellschaftliche «Hemmungen» kontrolliert werden muss, das scheint mir klar.

Du als junge Frau leidest ja wohl kaum an Hemmungen.

Noch deutlicher sagt es die letzte Strophe des Liedes: Wir müssen wirklich hoffen, dass in Politik und Wirtschaft ein paar Leute noch «Hemmige hei». Du als junge Frau leidest ja wohl kaum an Hemmungen. Wenn man im Zug oder im Bus hört, wie deine AltersgenossInnen ihre intimsten Gedanken und Gefühle hemmungslos am Telefon preisgeben – ich selber drücke mich scheu in eine Ecke, wenn ich meiner Frau einen Zugsausfall melden muss – könnte man doch zur Ansicht kommen, im Wörterbuch der Jungen käme das Wort «Hemmungen» nicht mehr vor.

Hemmungslose Zeiten

Tanja: Tatsächlich höre ich das Wort sehr selten. Vielleicht liegt das daran, dass wir es uns in unserer leistungsorientierten Gesellschaft gar nicht leisten können, Schwächen zu zeigen. Ganz nach dem Motto «fressen oder gefressen werden» bringt es der Hemmungslose oft weiter im Leben als das Mauerblümchen.

Gehemmt – so sieht unser Fotograf das Thema. Das Bild wurde 1992 in der Ukraine aufgenommen. – Bild: Walter Winkler
Gehemmt – so sieht unser Fotograf das Thema. Das Bild wurde 1992 in der Ukraine aufgenommen. – Bild: Walter Winkler

Allerdings denke ich, dass man mit dem Alter selbstbewusster wird und sich mehr traut. Ist man erst einmal kein unsicherer Teenie mehr und steht man mit beiden Beinen im Leben, ist es einfacher, am Selbstvertrauen zu arbeiten. Das fällt ja nicht vom Himmel, sondern muss antrainiert werden. Natürlich bin auch ich nicht hemmungslos. Sollte es mir zum Beispiel passieren, dass ich zu spät in einen vollen Vorlesungssaal komme und mich alle anschauen, kannst du mein Unbehagen an der Röte meiner Wangen ablesen.

Natürlich bin auch ich nicht hemmungslos.

Du hast also die 68er Bewegung und die wilden 70er miterlebt. War das damals nicht eine hemmungslose Zeit ohne jegliche Tabus?
Werner: In dieser Zeit  fielen vorübergehend wirklich fast alle Hemmungen weg, vor allem in Paris, wo ich gerade studierte. Das wilde Austoben in der grossen Menge war zwar noch nicht echtes Selbstvertrauen. Aber etwas änderte sich doch nachhaltig: Heute ist vieles möglich, was früher Tabu war: über Sexualität reden, Autoritäten kritisch anschauen, Militärdienst verweigern.

Da kam ich an eine Grenze meines Selbstvertrauens.

Und dass du dir als junger Mensch auch ein paar Hemmungen leistest, finde ich wunderbar. Auch mein Selbstvertrauen musste im Lauf meines Lebens manche Hemmung überwinden. Dazu braucht es, wie du sagst, Arbeit an sich selber. Und auch so behält man einiges an Unsicherheit bei. Ich merkte es zum Beispiel, als wir von unserm Live-Team aufgefordert wurden, an unbekannte Leute Komplimente zu verteilen, oder als ich mich beim Unterschriften-Sammeln für die Vollgeld-Initiative versuchte. Da kam ich an eine Grenze meines Selbstvertrauens. Hast du schon versucht, Hemmungen zu überwinden? Wie machst du das? Hast du Mittel und Wege gefunden, das Erröten zu verhindern?

Tanja: Wow, du hast ja wilde Zeiten hinter dir! Nach meiner Erfahrung sinkt die Hemmschwelle auch dank Anonymität. Besonders gut sieht man das bei Kommentaren im Internet, mit denen Wutbürger unter falschem Namen Dampf ablassen und dabei andere Menschen aufs Übelste beschimpfen. Gerade solche Leute haben im realen Leben aber nicht den Mumm, ihre Meinung zu äussern. Ich stimme dir zu, mit Selbstbewusstsein hat das nicht viel zu tun.

Ich versuche, so oft es geht, aus meiner Komfortzone auszubrechen.

Dieses muss erarbeitet werden. Ich versuche, so oft es geht, aus meiner Komfortzone auszubrechen. Dabei frage ich mich zunächst: «Wie könnten andere wohl auf meine Handlung reagieren und was ist das Worst-Case-Szenario?» Dann überlege ich mir, wie ich mich verhalten würde, wenn eine andere Person in meiner Situation wäre. Hättest du zum Beispiel ein Problem damit, wenn man dir auf der Strasse ein Kompliment erteilte oder dich um eine Unterschrift bäte?
Übrigens finde ich das Gefühl, Hemmungen überwunden zu haben, grandios. Aber was meinst du, sind unsere Unsicherheiten auch zu etwas gut?

Werner Kaiser denkt über seine Hemmungen nach. – Bild: Jana Daepp
Werner Kaiser denkt über seine Hemmungen nach. – Bild: Jana Daepp

Werner: Mani Matter scheint der Ansicht zu sein, wir Männer bräuchten Hemmungen, um unsere Untaten auf das «uf d’Bei Luege» zu beschränken. Ich denke allerdings, es müssten nicht Hemmungen sein – die taugen ja meist nicht viel – sondern Verantwortungsgefühl, Rücksichtnahme, liebevolle Zuwendung. Und da hätten wir Menschen ja noch allerhand zu lernen.

Mach’s doch!

Übrigens: Deine Taktik gefällt mir. Einfach schauen, wie es wäre, wenn ich selber so angesprochen würde, wie ich es zu tun wünsche. Ich habe übrigens die Erfahrung gemacht, dass es oft genügt, ein einziges Mal mutig eine Hemmung zu überwinden, um sie dauerhaft zu verringern. Ich war mit Kollegen in einer Disco. Alle Gäste sassen reihum, die Bühne war leer. Ich sagte zu einem Kollegen, das Schlimmste für mich wäre, da hinaufzugehen und zu tanzen. Er sagte nur: «Mach‘s doch!». Mit Hilfe eines Whiskys wagte ich es, tanzte allein zehn Minuten vor allen Leuten. Das hat mir viele Hemmungen genommen.

Ein bisschen Hemmungen müssen sein, findet Tanja Mitric. – Bild: Demian Thurian
Ein bisschen Hemmungen müssen sein, findet Tanja Mitric. – Bild: Demian Thurian

Tanja: Ich stimme dir zu, ein bisschen Hemmungen müssen sein. Allerdings ist es schade, wenn man deswegen Erfahrungen versäumt, die man eigentlich gerne gemacht hätte. Wahrscheinlich haben dich damals viele Leute in dieser Disco für deinen Mut bewundert, denn selber würden sie sich so etwas niemals trauen. Weshalb?
Wil si Hemmige hei!