Auf dem Niederhorn befinden sich drei Bänder, gespannt hoch über dem Abgrund. Die Aussicht auf den Thunersee und die Berner Alpen ist atemberaubend. Wir sind mit Kasia Tschopp und Dyan Enghard, beide vom Verein Slackattack Thun (www.slackattack.ch), zu einem Interview verabredet. Während wir uns unterhalten, herrscht im Camp ein buntes Treiben: Die Balancierenden auf den Lines wechseln sich ab, die anderen singen; jemand spielt Gitarre, jemand jongliert.
Was hat euch zum Slacklinen gebracht?
Kasia: Beim Reisen lernte ich zwei Kollegen aus dem Südtirol kennen, die mir vom Highlinen erzählten. Davon hatte ich zuvor nie gehört. Ich fand es unglaublich und wollte es unbedingt selber ausprobieren, um meine Höhenangst zu bekämpfen. Zurück in der Schweiz suchte ich nach Möglichkeiten, um Slacklinen zu lernen. Ich wusste, dass dies als Basis für das Highlinen sehr hilfreich ist. So habe ich vor einigen Jahren Slackattack Bern entdeckt. Dieser Verein bietet Trainings beim Unisport an, an denen ich als Studentin der Uni Bern teilnehmen konnte. So lernte ich die Berner Slackline Community kennen, die mich den Sport und alles, was er so mit sich bringt, lieben gelehrt hat.
Dyan: Das erste Mal stand ich mit zwölf Jahren auf der Slackline. Eine Nachbarin hatte ein Band zwischen den Bäumen gespannt. Niemand konnte darauf laufen, ich aber dachte, dass ich es könnte. Ich versuchte so lange, bis es ging. Von da an habe ich immer wieder mal geslackt. Manchmal schaute ich mir die wilden Videos von den Flying Frenchies (Anm. d. Red.: französische Extremsportler) an und dachte, dass Highlinen das Krasseste sei, was es überhaupt gibt. Ich liess mir nie träumen, dass ich mich das überhaupt getrauen würde. Bis ich dann einige coole Leute in Bern kennenlernte. So bin ich in die Community reingerutscht.
Was ist Slacklinen?
Slacklinen (engl. für «locker gespanntes Band») ist eine Trendsportart, bei der auf einem wenige Zentimeter breiten Kunstfaserband balanciert wird, das zwischen zwei Befestigungspunkten gespannt ist. Die Entwicklung des Slacklinens steht in engem Zusammenhang mit dem legendären «Camp 4» im Yosemite-Valley, USA. Dort begann man bereits in den 1960er-Jahren zum Zeitvertreib auf Absperrketten zu balancieren. Über die Jahre hat sich Slacklinen zu einer eigenständigen Sportart entwickelt mit diversen Disziplinen wie Longlinen (Lines >30m), Waterlinen (Slacklinen über Wasser) und schliesslich Highlinen (gesichertes Slacklinen in grosser Höhe).
In der Schweiz sind heute 23 Slackline-Vereine mit über tausend Mitgliedern tätig. Der älteste Verein ist Slackattack (Bern, 2009). Sie alle sind unter dem Dach von Swiss Slackline, dem Schweizer Slackline-Verband, zusammengeschlossen. Festivals wie das Bern City Slack, die Transalp Waterline Tour oder das Moléson Highline Meeting haben die Schweiz in der Slacklinewelt berühmt gemacht und locken immer mehr internationale AthletInnen ins Land.
Was ist eure Motivation, diesen Sport zu treiben?
K.: Am Anfang war es definitiv die Überwindung der Angst. Mit der Zeit kam der Ehrgeiz dazu, besser und länger zu laufen und weniger zu fallen. Gleichzeitig habe ich mich in das ganze Drum und Dran verliebt: Wenn du Highlinen gehst, sind immer Leute dabei, die die gleiche Leidenschaft teilen. Dieser sportlich-spielerische Geist motiviert mich immer wieder für so ein Wochenende wie hier oder für eine anderthalbjährige Slack-Reise.
D.: Bei mir hat sich die Motivation sehr gewandelt. Am Anfang wollte ich länger als zehn Meter laufen. Ich wollte unbedingt zu den rund 100 Leuten in der Schweiz gehören, die mehr als 100 Meter Highline laufen können. Dann ist es darum gegangen, in der Höhe die Angst zu kontrollieren, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, ruhig zu atmen und locker zu werden. Es ist ein Genuss, sich in einem solchen Zustand zu befinden und an einem exklusiven Ort die Aussicht zu geniessen. Slacklinen ist ein verdammt guter Grund rauszugehen. Ich hoffe, es auch mit 70 noch machen zu können.
Ihr seid also nicht frei von Höhenangst und überwindet sie mit dem Highlinen?
K.: Es ist ein längerer Prozess. Ich habe eine extreme Reise gemacht. Anfangs hyperventilierte ich jeweils nach dem Fallen, weinte und hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Nach drei, vier so genannten «Leashfalls» war ich jeweils so erschöpft, dass ich zurück an den Anker musste. Dein Körper und dein Geist müssen sich an diese Ausnahmesituation erst gewöhnen. Mittlerweile habe ich das schon so oft gemacht, dass ich für die spezifische Situation «Highline» meine Höhenangst überwinden konnte. Aber in anderen Umständen, z.B. beim Klettern oder auf einer Klippe stehend, spüre ich die Höhenangst immer noch.
D.: Es gibt Orte, die machen mir jedes Mal Angst, zum Beispiel exponierte Felsen. Aber wenn ich mich auf die Highline setze, danach aufstehe und laufe, weiss ich: Ich kann es, ich bin gesichert. Ich konzentriere mich darauf, stabil zu bleiben und mich abzulenken. In diesem Moment ist die Angst nicht megapräsent.
Es ist ein Genuss, sich in einem solchen Zustand zu befinden
Dyan Enghard
Wie bereitet ihr euch für diesen Sport vor?
K.: In einer Situation, wo dein ganzer Körper schreit «Weg von hier, was machst du da!», ist das Wichtigste, ruhig zu atmen und dich geistig zu beruhigen. Die beste Vorbereitung dafür ist für mich die Meditation.
D.: Mir hilft das Visualisieren, vor allem wenn die Lines wirklich hoch sind und ich krasse Angst habe. Zu Hause stelle ich mir vor: Ich bin dort, ich habe Angst, was mache ich damit, wo will ich hin? Und wenn ich nachher tatsächlich auf der Highline mit meiner Angst sitze, blockiert bin und aufstehen muss, denke ich: Hier bin ich schon gewesen…
Generationenfestival in Thun
Dyan Enghard, Vereinspräsident von Slackattack Thun, wird am 16. September am Generationenfestival in Thun einen Stand betreuen, wo BesucherInnen jeden Alters das Slacklinen ausprobieren können. Mehr Infos dazu gibt’s hier.
Verspürt ihr ein Glücksgefühl, nachdem ihr die Strecke geschafft habt?
K.: Absolut, wobei es etwas absurd ist: Jetzt, wo ich es weniger mit einer hirnbetäubenden Angst zu tun habe, ist das Glücksgefühl etwas kleiner geworden. Am Anfang, als ich viel Angst beim Highlinen hatte, war ich, nachdem ich es getan hatte, so erleichtert, froh und stolz auf mich gewesen! Das war etwas vom Schönsten, was ich je erlebt habe! Das hat mich an diesen Sport gefesselt. Mittlerweile bremst mich manchmal mein Ehrgeiz: Wenn ich nicht zufrieden bin mit meiner Leistung, ist das Glücksgefühl etwas gedämpft. Aber immer, wenn ich von der Line zurückkomme, bin ich glücklich.
Dein Körper und dein Geist müssen sich an diese Ausnahmesituation erst gewöhnen.
Kasia Tschopp
Welche Fähigkeiten gewinnt man beim Slacklinen?
D.: Das Coole am Slacklinen ist, dass jede Person es machen kann. Ausnahme: Ein anfälliger Rücken könnte bei Stürzen zu Schaden kommen. Es geht nicht darum, der/die Beste zu sein, sondern seine eigene Reise zu machen. Man lernt den Rücken zu stabilisieren, die Reaktionszeit zu verkürzen – dadurch wird das Sturz- und Stolperrisiko verringert. Die mentale Stärke und das Bewusstsein für Eigenverantwortung werden extrem gefördert.
Laax Highline World Championships
Vom 15.-17. Juli 2022 fand zum ersten Mal eine Weltmeisterschaft im Highlinen am legendären Galaaxy in Laax statt. Im Schweizer Nationalteam war Kasia Tschopp als einzige Frau vertreten. Mehr dazu erfährst du hier.