Schon die Peruaner kannten eine Art Blindenschrift, nämlich Schnüre in verschiedenen Farben, Längen und Breiten mit entsprechenden Knoten. Auch andere Kulturen kannten solche Schriften, so etwa tastbare Holzschnitte (Rom und Madrid). In Nürnberg wurde bereits um 1651 eine Wachstafel beschrieben, auf der blinde Menschen Buchstaben erkennen und kopieren konnten. Eine geeignete Schrift für blinde Menschen war damit aber noch nicht geschaffen.
Louis Brailles Punktschriftsystem
Am 4. Januar 1809 erblickte Louis Braille als jüngstes von vier Kindern in der Nähe von Paris das Licht der Welt. Sein Vater übte dort das Sattlerhandwerk aus. Im Alter von drei Jahren verletzte sich Louis in der Werkstatt seines Vaters mit einem Winzermesser an einem Auge – es konnte nicht mehr gerettet werden. Das andere Auge wurde durch eine Infektion geschädigt und musste entfernt werden. Louis besuchte die Schule in der «Institution Royale des Jeunes Aveugles», es handelte sich um eine Privatschule von Valentin Haüy, der als Erster die Bildungsfähigkeit blinder Menschen erkannt hatte. Der Unterrichtsstoff wurde den Blinden in Reliefschrift zugänglich gemacht. Nicolas Marie-Charles Barbier ersann ein Alphabet, das – zunächst für die nächtliche Verständigung im Krieg («écriture nocturne») gedacht – später zum Gebrauch von Sehbehinderten eingerichtet wurde.
Daraufhin fasste er den Entschluss, Blinde mit dem Schreiben vertraut zu machen. Dabei hatte er den glücklichen Einfall, dass für den tastenden Finger der erhabene Punkt viel deutlicher fühlbar sei als die Linie. Er entwarf ein «sonographisches Alphabet», das mit sechs Punkten in der Höhe und zwei Punkten in der Breite die 36 Grundlaute der französischen Sprache durch verschiedene Gruppierungen dieser Punkte wiedergab. Diese Schrift konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da sie schwer zu lesen und langwierig zu schreiben war. Aber Barbier hatte damit doch etwas geschaffen, das für Blinde von ungewöhnlichem Nutzen werden sollte.
ABC, Algebra, Arithmetik
Der 16-jährige Braille schöpfte daraus im Jahr 1825 die Idee zu seinem so einfachen und praktischen Punktschriftsystem. 1837 war seine Schrift zur Perfektion gediehen: neben allen orthographischen Zeichen waren die Zahlenschrift und eine Grundschrift für Algebra und Arithmetik entworfen. Darüber hinaus hatte er bereits den Grundstein für die Blindennotenschrift gelegt. 1839 veröffentlichte Braille eine kleines 16-seitiges Büchlein: «Neues Verfahren zur Darstellung von Buchstaben, geographischen Karten und geometrischen Figuren sowie von Musiknoten durch Punkte zur Benützung von Blinden.»
Im Alter von 26 Jahren spürte Louis die ersten Anzeichen einer tödlichen Krankheit. Am 10. Januar 1852 wurden seine sterblichen Überreste im kleinen Friedhof von Coupvray neben jenen seines Vaters und seiner Schwester beigesetzt. Das Geburtshaus Louis Brailles beherbergt heute das «Musée Louis Braille». Seine Punktschrift trat den Siegeszug rund um die Welt an.
Dank Elektronik mit dabei
Heute können sehbehinderte Menschen dank der Elektronik ohne weiteres im Berufsleben, in der Schule oder im Studium mithalten. Von grossem Nutzen ist hier etwa die Braillezeile, ein Computer-Ausgabegerät, welches die Brailleschrift darstellt. Dank ihr können Sehbehinderte grosse Teile der Standardsoftware benutzen und selbständig am Computer arbeiten. Die Funktion der Brailleschrift-Darstellung basiert auf einem elektrischen Effekt speziell gezogener Kristalle, die sich beim Anlegen einer elektrischen Spannung verbiegen und damit dann einen Stössel als Punkt aus einer Fläche herausragen lassen. Die BenutzerInnen können mit ihren Fingerkuppen die Zeichen abtasten. Da Braillezeilen nur in kleinen Stückzahlen hergestellt werden, sind die Produktionskosten entsprechend hoch.
Der Autor René Mathys hat während über zehn Jahren mit einem sehbehinderten Redaktor aus der Romandie alle zwei Monate eine Zeitschrift in deutscher und französischer Sprache herausgegeben. Dank der Braille-Zeile und den hervorragenden Kenntnissen des Co-Redaktors ergaben sich keine Probleme.