Abgetaucht und abgerauscht. Abgegeben und abgelebt. Abgesagt und abgedankt.
Lilly liebte diese Ab-Zustände. Wenn sie sich im Rausch befand, war alles plötzlich so einfach. Sie konnte einfach alles abgeben. Wenn Lilly jedoch unberauscht war, war das Leben einfach ein Knorz. Denn Lilly war sehr schüchtern. Sie war eine Traudichnicht. Ständig lag sie als Beobachterin auf der Lauer. Wenn sich Gruppen im Schulhaus unterhielten, stand sie in einer Ecke und guckte. Wer spricht mit wem? Wer berührt wen? Kleine nonverbale Signale wurden von ihr sofort in ein Soziogramm übersetzt.
Marlen und Peter, Peter und Lisa, Lisa und Max…
Sehnsuchtsvoll spähte sie aus ihrer Ecke. Manchmal gelang es ihr, einen Wortfetzen aufzufangen. Dieser blieb in ihrem Hirn hängen und gab diesem Nahrung, die Welt zu verändern. In ihrer Phantasie war alles möglich, sie war der Star in der Gruppe. Eloquent und schön lagen ihr alle zu Füssen.
Sie sass auf den Königsthron und sorgte für das Wohl der Welt. Als kluge Königin nahm sie die Huldigungen ihrer Person mit einem wohlwohlend-wissenden Kopfnicken zur Kenntnis. Ihre Untertan mussten keine Steuern zahlen, sie bezahlten in Liebesmünzen. Jeder musste sich überlegen, was er an Liebe geben konnte. Die einen wählten ein liebes Wort, die andern eine ehrfurchtsvolle Berührung. Besonders gern hatte es Lilly, wenn sie an den Ohren berührt wurde. Noch höher stieg sie auf dem Liebesbarometer, wenn begleitend zu der Berührung ein Lob ihre Ohren erreichte. Die Liebesmünzen wurden nach Erhalt in den Tresor geschlossen.
Die Anzahl der Liebesmünzen, die sie für ihre täglichen Ausgaben brauchte, konnte von Königin Lilly festgelegt werden und war immer unterschiedlich hoch. Diese hing ab von ihren Bedürfnissen. Wenn es ihr gut ging, musste sie nur wenige Münzen aus dem Tresor nehmen. Sie konnte sparen für schlechtere Zeiten. Ging es ihr schlecht, waren es sehr viel mehr und der Tresor leerte sich zunehmend.
Im ersten Fall brauchte es etwa 50 Lm (Liebesmünzen), bevor der Tresor wieder geöffnet wurde. Wenn sie traurig oder verärgert war stieg die Zahl bis etwa 500. Wenn es ihr gut ging konnte sie sparen für schlechtere Zeiten. Denn dann musste sie nicht viele Münzen aus ihrem Tresor nehmen.
Lilly hatte ein facettenreiches Gefühlsleben. Manchmal verlor sie sich darin. Sie merkte, dass sie erst wieder ganz da war, wenn sie die entsprechende Anzahl Liebesmünzen aus dem Tresor genommen hatte. Dann ging es ihr gut. Die Untertannen hatten ihr viele Münzen eingezahlt. Davon brauchte sie aber mal wenig, mal viel. Lilly war ein chaotisches Wesen. Bald verlor sie den Überblick über die Münzen. Also befahl sie dem Schatzmeister, ihr je nach Gefühlszustand eine bestimmte Anzahl Münzen auszuzahlen. Um den Überblick zu behalten kategorisierte der Schatzmeister diese wie folgt:
Jede kleine Gefühlsregung wurde einem grösseren Gefühlszustand zugeordnet. Also z.B.
Fantastisch, erfreut, hingerissen, glücklich, verzückt, begeistert viel unter den Begriff sehr glücklich
Sehr glücklich: es brauchte nur 50 Liebesmünzen
Zufrieden: 100 Liebesmünzen
Innerlich ruhig : 150 Liebesmünzen
Verärgert: 200 Liebesmünzen
Eifersüchtig: 300 Liebesmünzen
Ängstlich: 400 Liebesmünzen
Sehr zornig: 500 Liebesmünzen
Plötzlich erwachte Lilly aus ihrem Rausch. Sie merkte, dass das Königinnenreich nur Schall und Rauch war. Erstaunt blickte sie um sich. Die Gruppe Schüler war immer noch am Tratschen. Lilly gehörte wie immer nicht dazu. Trotzdem blieb ein Gefühl der Zufriedenheit zurück. Sie merkte, dass das Bild der Liebesmünzen ein hilfreiches war. Sie konnte ihre eigene Welt erschaffen. Es kam nicht darauf an, ob sich die Geschichte in ihrem Kopf oder in der Realität abspielte. Lilly merkte, dass ihre Bedürftigkeit stärker war, wenn es ihr schlecht ging. Sprich, wenn es ihr schlecht ging, brauchte sie viel mehr Münzen von anderen Menschen. Sie war abhängig von diesen. Sie war ausgeliefert. Denn in der Realität war es nicht so, dass die Menschen ihr so viele Münzen gaben, wie sie brauchte. Wenn sie es jedoch schaffte, gut drauf zu sein unabhängig von der Liebe der anderen, dann brauchte sie auch keine Münzen.
Sehnsuchtsvoll schaute sie hinüber zu der Schülerinnengruppe. Das Ausgeschlossen-sein setzte ihr zu. Somit versenkte sie sich wieder in ihrem Rausch. In der Phantasie erschuf sie ein reiches Leben. Sie merkte, dass sie, wenn sie ihr Wohlbefinden weiterhin von den anderen abhängig machte in Armut alt werden würde. So beschloss sie, ihre Liebesmünzen an anderen Orten als in der Schule zu suchen. Sie ging in den Wald. Frau Holle liess es Gold regnen. Sie war reich. Gratis. Die Natur füllte ihren Tank. Danke Planet. Danke Erde. Danke Himmel. Danke Bäume.