Manifest einer Solo-Reisenden
Annina Reusser (23)
Ich finde es grossartig, alleine zu reisen. Ich habe nur dabei, was ich brauche. Ich geh nur dahin, wo ich will. Ich bleibe so lange, wie es mir gefällt. Ich muss keine Kompromisse eingehen, wenn mir irgendetwas nicht passt. Natürlich hat alleine zu reisen auch Nachteile: Ich kann meine Ideen nicht mit jemandem besprechen. Ich muss die gesamte Reiseplanung alleine machen. Es ist niemand da, der mich kennt, wenn mir etwas zustösst. Ich gehe das Risiko ein, keine Gesellschaft zu haben.
Die eigene Komfortzone verlassen
Als ich vor gut einem Jahr nach Mexiko reiste – meine allererste Reise ausserhalb Europas, mutterseelenallein – sagten alle: «Ist das denn nicht gefährlich?» «Hast du denn keine Angst?» «Alleine? Du als Frau und erst noch blond? Mutig.» Mut gehört zweifellos dazu. Zwar kam es nicht dazu, dass ich Banditen mit Messern gegenübertreten oder nachts alleine durch dunkle Strassen schleichen musste. Ich brauchte Mut, einfach jemanden in der Hostel-Lounge anzuquatschen. Ich brauchte Mut, alleine in einem Restaurant zu essen. Ich brauchte Mut, mich Gruppen anzuschliessen, die ich kaum kannte. Kurz: ich brauchte Mut, um meine Komfortzone zu verlassen – über die Felsklippe ins Wasser zu springen. Meistens stellte ich dann fest, dass das Wasser gar nicht so kalt ist wie erwartet.
«Die Vorteile des Alleine-Reisens überwiegen für mich bei weitem.»
Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Wenn ich alleine reise, ist mir ganz wichtig, dass ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen kann. Fühle ich mich wirklich nicht wohl, gehe ich besser weg. Traue ich mir zu, eine unsichere Situation zu meistern, dann mache ich es auch. Wenn ich mich vorbereite und mir der Risiken bewusst bin, fällt es mir schon viel leichter, etwas zu wagen.
Reisen bildet – auch alleine
Das Risiko, mal ein paar Tage alleine zu essen oder ein ganz bestimmtes Stadtviertel, das ich unbedingt hätte sehen wollen, auszulassen, weil ich mich nicht wohlfühle, nehme ich in Kauf. Die Vorteile des Alleine-Reisens überwiegen für mich bei weitem.
Da sind etwa die Bekanntschaften, die ich als Solo-Reisende viel eher schliesse. Ich sammle Erfahrungen im Zusammensein mit diesen Menschen – mit wem verstehe ich mich gut, wer nervt mich nach zwei Stunden, wie gehe ich auf die Leute zu? Nicht zuletzt lerne ich nicht nur viele andere Menschen, sondern auch mich selber besser kennen. Wenn mir niemand sagt, was ich zu tun habe, zwingt mich das, mir meinen eigenen Weg zu suchen. Wenn ich selber entscheiden muss, spüre ich, was ich will und was nicht. In den langen Stunden, nachdem ich mich von Kurzbekanntschaften verabschiedet habe und bevor ich neue FreundInnen kennen lerne, habe ich nur mich selbst zur Gesellschaft. Reisen bildet, das wusste schon Goethe. Alleine reisen bildet – davon bin ich überzeugt – vor allem die eigene Persönlichkeit. ☐
Ein Leben lang reisen
Karin Mulder (78)
Als Kind – ich wuchs in Kiel auf – reiste man relativ selten; höchstens zur Grossmutter oder zu Verwandten, zum Beispiel nach Süddeutschland, um einen Keuchhusten zu kurieren. Die erste grosse Reise erlebte ich mit der Schule in den Harz. Das änderte sich dann mit dem Wirtschaftswunder, und alsbald wollte man aus der Enge der Heimat ausbrechen, die Abenteuerlust wuchs. So reiste ich als 18-Jährige allein mit dem Zug nach Venedig in eine mir bis dahin unbekannte Familie, die nur Italienisch sprach.
Als dann die Berufsausbildung zur medizinisch-technische Assistentin (MTA) begann, fehlte das Geld für Reisen, aber zu der Zeit war Autostopp ein beliebtes Mittel zum Zweck. Zuerst übte ich es in der Deutschschweiz mit einer Freundin, dann wagte ich es allein. Endlich konnte ich selbst Reisen planen: allein nach Spanien – mit Badeferien am Meer und Kulturprogramm, zum Beispiel Toledo kennenlernen, wow! Als junge Frau lernt man schnell Gleichgesinnte kennen, es entstehen kurze Freundschaften.
Japanische Gastfreundschaft
Nach der Familiengründung kamen dann die Reisen en famille, das ist gemütlich, solange man in der näheren Umgebung bleibt. Man konnte zum Beispiel bei einem starken Gewitter auf dem Zeltplatz am Thunersee zum Bus rennen und in der trockenen Wohnung in Thun duschen, im eigenen Bett träumen. Sobald uns die Sonne am andern Morgen weckte, fuhren wir zum Zeltplatz zurück.
«Ich habe immer Schweizer Ansichtskarten bei mir. Damit kann ich zeigen, woher ich komme, und verschenke sie als kleinen Dank.»
Erst seitdem ich wieder allein bin, wurde allein zu reisen erneut aktuell. Ich reiste das erste Mal, kurz nachdem mein Mann gestorben war, allein nach Japan, hatte richtig Angst, weil ich ja weder die Sprache verstand, noch lesen konnte, wo ich war. Schnell merkte ich, dass man als ältere Frau überall respektiert wird, fühlte mich auch in den enormen Menschenmengen sofort sicher, aber allein am Tisch zu sitzen behagte mir nicht. So ging ich abends wie die japanischen Familien zu den vielen blühenden Kirschbäumen, unter denen man traditionell Picnic machte, wurde sogar eingeladen, mit auf einer Decke zu sitzen und Reisbällchen und Sushi zu essen. Gern hätte ich auch meine verschiedensten Erlebnisse mit jemandem geteilt. In Kyoto sprachen mich zwei Studentinnen an, ob sie mich führen dürften. For free, um ihre Englischkenntnisse verbessern.
Im Alter lieber in der Gruppe reisen
Ich habe immer Schweizer Ansichtskarten bei mir. Damit kann ich zeigen, woher ich komme, und verschenke sie als kleinen Dank. Meiner Neugier konnte ich ohne Rücksichtnahme frönen, musste aber auch alles allein organisieren. Vielleicht hätte eine Freundin spontan andere, tolle Ideen eingebracht? Ich begann nach einer neuen Form des Reisens zu suchen. Gruppenreisen boten sich an: Man kann sich den Weg und das Ziel aussuchen, auch die Größe der Gruppe. Man kann wandern, trecken oder sogar den lang gehegten Traum verwirklichen, mit der Transsibirischen Eisenbahn zu fahren. Das war ein lustiges Abenteuer, denn um die Reisekosten zu senken, hatte ich mich bereit erklärt mit einer gleich gesinnten Frau das nicht sehr geräumige Zweier-Abteil im Zug zu teilen. Sie war auch aus Thun, wollte mich vorher kennenlernen und besuchte mich. Zuerst dachte ich: Wie soll das gehen? – sie war nämlich recht rundlich. Wir haben aber schon an diesem Begegnungsabend so viel gelacht, dass wir beide einverstanden waren, gewisse Beschränkungen mit Humor zu erleben. Es wurde dann tatsächlich eine lustige und hoch interessante Reise. Bei solchen Gruppenreisen bleibt die Möglichkeit des Austausches und gemeinsamer Mahlzeiten mit interessanten Gesprächen und Gelächter. Man erlebt die Nacht in einer mongolischen Jurte voller Kakerlaken ohne Angst oder Ekel – es wird gemeinsam eine Lösung gefunden. Wenn nötig, klinkt man sich aus. Seit ich älter bin, schätze ich die Sicherheit in der Gruppe, freue mich, wenn ich nicht Flug und Hotel organisieren muss, dafür umso mehr Zeit habe, durch einen orientalischen Markt zu schlendern, was ich allein wohl nicht täte. ☐
Auf mich selbst gestellt
Mariëlle Schlunegger (23)
Ein spezieller Moment vor drei Jahren: Im Waschraum eines Hostels in Oxford lernte ich eine Frau kennen, die gleich alt war wie ich. Beeindruckt von ihren Erlebnissen, fühlte ich in mir den Wunsch wachsen, auch einmal ganz alleine zu reisen. Zudem war ich in jenem Sommer mit meiner Familie unterwegs. Auf einmal begann mich dies zu stören. Das Bedürfnis nach Freiraum und Selbstbestimmung wurde immer grösser.
So unternahm ich vor zwei Jahren meine erste Reise alleine. Ich wollte die Hauptstadt Deutschlands besuchen. Ganz gespannt und mit hohen Erwartungen an meinen ersten selbstständigen Kurztrip liess ich mich auf das Abenteuer ein. Schnell stellte sich heraus, dass alleine unterwegs zu sein gar nicht so einfach ist. Den Weg vom Flughafen zum Hostel beispielsweise musste ich alleine finden, obwohl ich es gewohnt war, dass jemand anderes jeweils die Karte las. Im Hostel angekommen, war ich zum ersten Mal alleine im Zimmer, es war niemand da, mit dem ich meine ersten – eher negativen – Eindrücke teilen konnte.
Alleine in der Grossstadt…
Um den Kontakt zu anderen Reisenden musste ich mich schon ein wenig bemühen. Doch die Freude über eine neue Kurzfreundschaft hat mich definitiv entschädigt! Auf der Strasse oder in einem Club ergab sich der Kontakt zu anderen Personen viel schneller. So wurde ich beispielsweise im Park häufig angesprochen, vorwiegend von jungen Männern. Dass sie mir Drogen anbieten wollten, fand ich erst durch spätere Erkundigungen heraus. In diesen Momenten wäre ich froh gewesen um die Begleitung einer Freundin. Blicke ich nun auf diese Reise zurück, erinnere ich mich an viele spannende Momente, interessante Bekanntschaften und bin stolz, sie angetreten zu haben. Ich hatte viel Zeit für mich und lernte, mich selber in einer Grossstadt zurechtzufinden.
Die Erfahrung, beispielsweise alleine in einem Restaurant zu essen, verunsicherte mich ein wenig und trotzdem fühlte ich mich gut, da ich mich zu etwas Neuem überwunden hatte. Trotzdem erlebte ich während diesen Tagen auch viel Einsamkeit, besonders tagsüber. Doch diese «Niederlagen» hielten mich nicht davon ab, ein paar Monate später wieder alleine zu reisen.
…aber immer weniger einsam
Meine nächste Reise führte mich nach Utrecht, einer wunderschönen, vergleichsweise kleinen Stadt in Holland. Um der Einsamkeit zu entgehen, hatte ich bereits im Vorfeld Kontakt zu Personen, welche in Utrecht leben, gesucht. Wir haben uns per E-Mail kennen gelernt und uns auf ein Treffen in der Innenstadt verabredet. Darüber freute ich mich sehr. Es war für mich super spannend, jemanden in einer Stadt, die ich besuchte, zu treffen. So hat sich für mich etwas etabliert zwischen ganz alleine unterwegs sein und andere Leute treffen. Heute verbinde ich Reisen oft mit einem Besuch bei einer Person, die ich bereits kenne. So bin ich trotzdem noch flexibel genug, zu tun und zu lassen, was ich will, und entkomme auf diesem Weg meiner Angst, ganz einsam zu sein. Alleine zu reisen kann ich allen, besonders Frauen empfehlen. Sicherheitstechnisch ist es sicher sinnvoll, sich eher in Gegenden, wo sich viele andere Menschen befinden, aufzuhalten. Auf sich selbst gestellt zu sein, erfordert etwas Mut. Alleine zu reisen beantwortet für mich noch eine ganz andere Frage: Wer soll es mit dir aushalten, wenn du nicht mit dir selber klar kommst? ☐