Pauline Delabroy-Allard: «Es ist Sarah», Frankfurter Verlagsanstalt, 2019
Heidi: Der französische Titel singt es fast: «ça raconte Sarah»: gleich zweimal Sarah. Derart hingerissen ist die biedere dreissigjährige Lehrerin von der begabten, unkonventionellen Violinistin Sarah! Die beiden Frauen begegnen sich an einer Silvesterparty. Sofort weiss die Ich-Erzählerin: «Es ist Sarah». Sarah ist der Mensch, der an ihr Innerstes rührt, der bei ihr Körper und Seele zum Klingen bringt. Ein Liebesrausch mit unvergesslichen Höhenflügen, entsetzlichen und zerstörerischen Abstürzen beginnt. Für beide ist es die erste Liebeserfahrung mit einer Frau. Aber spielt es eine Rolle, ob heterosexuell oder lesbisch? Nein, es ist die unwahrscheinlich gekonnte Beschreibung einer Liebe, des alles beherrschenden Gefühls, was die Leser in diesem Roman packt, ja, geradezu wegspült und am Ende des Textes erschöpft wieder an Land wirft. Das Buch der jungen Französin schaffte es in die zweite Runde des Prix Goncourt und wird Preisträger des «Choix Goncourt de la Suisse». Es hat Kraft, ist weder kitschig noch über-emotional, ist zudem exquisit gestaltet – einfach eine Wucht!
Marlene: Sarah ist chaotisch, laut, sprunghaft, exzessiv. So liest sich auch das Buch. Der Schreibstil gefällt einem – oder eben nicht. Mir hat er sehr gefallen, auch wenn er den Lesenden einiges abverlangt. Kurze Sätze, Wiederholungen, viele Halbsätze – was teilweise anstrengend ist, weshalb ich das Buch in Häppchen gelesen habe. Manche Abschnitte sind mir wie Gedichte vorgekommen. Der Fokus liegt klar auf den Hauptpersonen, alle anderen – selbst das Kind der einen Hauptfigur – verblassen völlig, werden gar nicht Thema dieser Geschichte, was das Bild der Liebe zwischen den beiden nochmals verstärkt. Die Liebe, die beschrieben wird, ist verzehrend, intensiv, zerstörerisch. Eine schöne Liebesgeschichte? Ich finde nicht. Aber sie hallt nach. Das Gefühl während dem Lesen: Mitreissend. Nach dem Lesen: Mitgenommen.
Ausserdem gelesen
Marlene: Isabelle Lehn: «Frühlingserwachen», S. Fischer, 2019: Keine Geschichte mit klarem Anfang und Schluss, eher verschiedene Abschnitte zu verschiedenen Themen, welche die Hauptfigur im Moment gerade beschäftigen. Schonungslos – aber teilweise auch sehr erheiternd und mit viel trockenem Humor versehen.
Karen Köhler: «Miroloi», Hanser, 2019: Auf einer namenlosen Insel, ich vermute, irgendwo im Mittelmeer, gibt es das schöne Dorf. Da haben die Frauen keine Rechte, können nicht lesen und dürfen keinen Besitz haben. Ein Buch über Diskriminierung, veraltete, konservative Denkmuster und wie man diese aufbricht. Sehr lesenswert!
Heidi: Elizabeth Strout: «Die langen Abende», Luchterhand, 2020: Olive Kitteridge, die bärbeissige pensionierte Mathematiklehrerin aus «Mit Blick aufs Meer» ist wieder da! Schrullig, echt, selbstkritisch, offensichtlich unverwüstlich. Keine aufregende Geschichte, doch eine, die gefangen nimmt.
David Wagner: «Der vergessliche Riese», Rowohlt, 2019: Eine fast ausschliesslich als Dialog geschriebene Vater-Sohn-Geschichte. Man wird berührt und staunt, wieviel Nähe bleibt, auch wenn der alte Mensch langsam wegdämmert. Für Leser von Arno Geiger «Der alte König in seinem Exil» oder Philip Roth «Mein Leben als Sohn».
Talk im Höchhus mit Sebastian Steffen
12. März 2024, 19 Uhr