Seit Andreas nicht mehr Ski fahren konnte, hasste er die kalten Winter in der Schweiz. Eines Septembers kaufte er sich ein Faltvelo und füllte einen sportlichen Rucksack mit dem Allernotwendigsten, um eine lange und ziellose Reise in Südeuropa zu unternehmen. Er verabschiedete sich von seiner Frau und den wichtigsten Freunden, die ihm Ratschläge und Wünsche mitgaben sowie ihn heimlich beneideten und verurteilten.
Helikopter unter dem Bett
Im Nachtzug nach Rom beäugte ihn der Schlafwagenbegleiter argwöhnisch, als er mit der Velotragtasche aufkreuzte. «Gehen sie auf die Jagd?» fragte ihn dieser mit hochgezogenen Augenbrauen. Andreas blinzelte ihm zu und erwiderte spitzbübisch: «Ich habe gehört, die italienischen Bahnen blieben hie und da stecken – wegen Streiks und so. Darum packte ich vorsichtshalber meinen Helikopter ein.» Der Italiener blinzelte zurück: «Wenn sie mich mitfliegen lassen, schaue ich jetzt weg.» «Klar doch», nickte Andreas und schob sein Wundergerät unter das Klappbett. Er hoffte, das zweite Bett bliebe diese Nacht leer. Pech gehabt. Kaum schloss er die Tür, polterte es kräftig auf dem Gang und eine geschminkte Dame schob ein Koffermonstrum in das enge Abteil. Darin hätte Sprengstoff für mindestens zehn Anschläge Platz gefunden, aber einer Dame sagte der Zugbegleiter natürlich nichts.
Dame?
Sie donnerte Andreas ein «Salve!» entgegen. Diese Stimme hätte er als Opernbariton eingestuft, wenn es keine Dame gewesen wäre. Der Koffer entpuppte sich als Schrank mit Türen, Schubladen und einem aufklappbaren Spiegel.
Sie schminkte sich ab und zog sich um. Andreas drehte sich anstandshalber auf der Liege gegen die Wand. Nach einigem Seufzen und Stöhnen fragte sie: «Nimmst du einen Schlaftrunk mit mir?» Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Mann im Pijama und streckte ihm einen Grappa entgegen. Er musste lachen und nahm das Glas: «Prost.» – «Salute!» – «Sind sie vom Theater?» – «Alles ist Theater», erwiderte der Mann mit Fistelstimme. «Ich verkaufe Reizwäsche. Als Mann hätte ich da keine Chance. Hahaa!» «Stimmt», sagte Andreas, «ich war Coiffeurmeister und Zauberer. Da musste ich der Wirklichkeit auch nachhelfen.» «Ohoo!», staunte der Verkäufer, «und wie lässt du die Sächelchen verschwinden?» Andreas rollte seine Augen und raunte: «Wie Berlusconi: mit Ablenkung. Übrigens heisse ich Dimitro.» «Enrico. Bin Milanesi, aber in Basel aufgewachsen. Prost!» «Prost, Enrico.» Die beiden Männer tauschten noch einige Erfahrungen aus und schliefen nach Domodossola ein.
Am frühen Morgen suchte Dimitro, alias Andreas, verzweifelt nach seinem Geldbeutel.
Diebstahl oder Spiel?
Er hatte ihn doch auf das kleine Tablar oberhalb seines Kopfes gelegt – sicher und griffbereit. Er tastete sich in der Bauchregion ab. Wenigstens war das Leibtäschchen mit dem Pass und einer Ersatzkreditkarte noch vorhanden. Aber alles Bargeld, sein Fahrausweis und die Postcard waren weg. Er suchte die Taschenlampe im Rucksack und leuchtete sein Bett damit aus. Nichts zu finden. Auch im Rucksack nicht. Enrico! War er noch da? Ja, der Kerl schlief ganz unschuldig. Er würde ihn aber zur Rede stellen, sobald er erwacht. Natürlich konnte auch sonst jemand unbemerkt eingedrungen sein – die Diebe sind ja heute sehr raffiniert. Andreas stand auf. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streifte den Riesenkoffer, und da! Wie selbstverständlich lag sein Geldbeutel obenauf. Er öffnete ihn vorsichtig. Nichts fehlte. Das konnte nur ein Streich von Enrico sein! «Warte Bürschchen, Rache ist süss!», murmelte Andreas vor sich hin. «Soll ich ihm auch etwas entwenden? Nein das wäre zu plump. Ich lasse mein Portemonnaie verschwinden und klage am Morgen, es sei mir gestohlen worden. Dann wird er zuerst ein Spielchen spielen. Sobald er aufsteht, und sieht, dass es wirklich weg ist, wird er ausrufen. Und dann werde ich Dimitro spielen!» Er verschwand wieder ins Bett und wartete das Tageslicht ab. Enrico erwachte und ging verschlafen aufs WC. Als er zurückkam und sich auf den Bettrand setzte, wühlte Dimitro im Bett herum und fluchte. «Hat es Flöhe im Bett?», fragte Enrico. «Viel schlimmer, mein ganzes Geld ist weg. Ich hätte nicht den Nachtzug nehmen sollen. Hast Du nichts bemerkt?» «Mit zwei Grappa schlafe ich wie ein Murmeltier. Aber vielleicht hat der ‚Conduttore‘ dein Billett gesucht und es am falschen Ort deponiert.» «Nein, nein, ich hatte es hier auf dem kleinen Tablar.» «Das ist aber sehr gefährlich. Da würde es sogar eine Ratte finden.» «Aber die Tür war doch verschlossen …» «Hihii, jeder hat doch einen Vierkantschlüssel.» «Die Ratten aber kaum. Hast du einen?» «Du willst mich doch nicht etwa verdächtigen?» «Immerhin warst du die ganze Nacht hier drin.» Enrico steht auf, wirft sich in die Brust und sagt donnernd: «Ich stehle nie!» Als er auf den Koffer schaut, erschrickt er und sagt viel leiser: «Ich spiele nur ab und zu.» «Und wie geht das Spiel?» «Na, ganz verschieden, mal so mal anders.»
Zaubertrick
Da spickte Dimitro sein leeres Portemonnaie von hinten über seine Schulter an den Kopf von Enrico. Dieser erschreckte, lachte, öffnete den Geldbeutel und murmelte: «Vuoto‘ … als ich das Ding hinlegte, war es noch voll. Wie viel Geld war drin? Ich mache dir einen Scheck.» «Enrico, du bist mein Freund. Listig und ehrlich zugleich. Ich habe das Geld jetzt besser versorgt.» «Dimitro, jetzt hast du mich erwischt! Schön, bleiben wir Freunde.» Er öffnete eine kleine Schublade im Koffer und überreichte Dimitro zwei Kärtchen: Dimitro las: ‚Chiara Belladonna‘ auf einem rosaroten und ‚Alessandro Fedele‘ auf einem blauen Kärtchen. Er steckte sie ein und erwiderte: «Ich habe alles Geschäftliche zu Hause gelassen, aber meine Handy-Nummer kann ich dir geben.»
Beim Frühstück unterhielten sie sich über Italien und ihre Zukunftspläne. Zum Abschied betonte Enrico nochmals: «Alles ist Theater. Es lebe der Zauberer!» Andreas gab ihm noch seinen bürgerlichen Namen an und entgegnete: «Alles ist Zauber! Es lebe die Belladonna!»