Ein Dialekt-Versuch
Die Gesprächsgruppe erhielt einen kleinen hochdeutschen Text, den sie je in ihrer Mundart wiedergeben sollte. Diese Versionen haben wir aufgenommen. Als Beispiel, aber auch für persönliche Versuche hier die Vorlage:
Neun Uhr früh! Ich habe wohl den Wecker überhört.
Ich hätte schon lange aufstehen sollen.
Rasch laufe ich die Treppe hinunter. Reicht es noch zum Frühstücken?
Ich setze mich nicht hin.
– Bald lasse ich alles stehen und gehe zur Arbeit.
Wenn du dies nun im eigenen Dialekt vorbringst, wie tönt es? Prüfe dich: Ist es wirklich Dialekt, oder machst du doch nur das Hochdeutsche nach?
Wir kreisen alle um die Region Thun, wir treffen uns hier – aber sprechen tun wir doch recht verschieden. Zunächst ergründen wir die Sprach-Biografie der Teilnehmenden:
Werner Kaiser (86) hat weder das Züridütsch des Vaters noch das Liechtensteinische seiner Mutter übernommen. Er ist in Wartau, oben im Sankt-Galler Rheintal, aufgewachsen, und auf den dortigen Dialekt ist nicht nur das Dorf, sondern auch er stolz. Internatszeit in St. Gallen, Studien in Fribourg haben das nicht geändert. Allerdings sagt Werner: «Ich bin seit 75 Jahren aus der Gegend weg; die Mundart dort hat sich verändert, wie meine auch.»
Hier die Version, in der Werner Kaiser seinen «originalen» Wartauer Dialekt, den seiner Jugend, eingesetzt hat:
Nüüni am Morge! I ha gwüss dr Wegger nid ghöart.
I hett schon lang söle uufstuh.
Hopp lauf i d’ Schtääge ai. Langets ächt no füre Zmorge?
I hogge nid ab. – Nochere Wiili los i ales stuh un gang go schaffe.
Werner liefert zudem eine Reihe spezieller Wörter aus seinem alten Dialekt:
Gfätterle (herumspielen) | Spärze (treten, «gingge»)
ui / ai (hinauf / hinunter) | diooba / diunna (oben / unten)
ötschis / ötschmer / ötschwo (etwas / jemand / irgendwo)
naissis / naissmer / naisswo (wie ötschis – veraltet)
ebediggemool (ganz altertümlich) | Poväärli (grüne Erbsen – pois verts)
Auch Rebekka Flotron (29) hat ihre Sprechweise aus dem Sanktgallischen – aber einem andern! Ab dem Kindergarten im Toggenburg liess sie einen Berner Dialekt, den sie hatte, fahren. Sie habe sich angepasst, weil sie in der Schule geplagt wurde. Ihre Mutter ist Bernerin, der Vater Solothurner. Als Rebekka ins Bernbiet zurückkehrte, hielt sie am Toggenburgischen fest, bis auf einzelne Wörter, die ihr hier gefallen. Aussenstehende meinen, sie habe einen extremen Sankt-Galler-Dialekt; die Dortigen finden das nicht. Aber «wenn ich Berndeutsch sprechen möchte, würde das nicht authentisch tönen».
Geraldine Maier (24) nennt ihre Sprache ein buntes Gemisch. 18 Jahre lebte sie im Seeland, doch die Mutter kam aus Sankt Gallen, der Vater aus dem Thurgau; sie kam oft in die Ostschweiz, und nach den Ferien sei das hörbar gewesen: Sie sagte «Gireizli, Prügeli, Butter». Zunehmend legte sie dies ab, vor allem, weil sie viel im Ausland lebte – auf Reisen lernte sie die Vielfalt würdigen. Heute wohnt sie im Sanktgallischen …
«Auf Reisen lernte ich die Vielfalt würdigen.»
Geraldine Maier
Barbara Friedrich (40) beteuert, sie sei «ohne Dialekt aufgewachsen». Ihr Vater war Luzerner, ihre Mutter mischte Bernisches und Zürcherisches; das war bereits multi-kulti. Die Familie zog oft um, Aargau, Luzerner Hinterland, Uri (da blieb man fünf Jahre lang, da wurde mehr angenommen – und verschwand dann wieder). Barbara sagt, sie «könne nicht zurück zu Früherem». Ihr Gatte übrigens, ursprünglich aus Basel, ist Berner. Und die Kinder leben eben hier.
Einen besonderen Blick öffnete Barbara die Zeit, die ihre Familie im Tessin verbrachte. Sie ging dort zur Schule; da gab es nur das hochoffizielle Italienisch. Aber wenn Dialekt gesprochen wurde – was bei Jugendlichen überraschend wirkte –, dann war der schier unverständlich.
Bei Arbër Shala (30) ist’s noch komplexer. Deutsch war nicht seine (erste) Muttersprache; als Einjähriger kam er aus dem Kosovo in die Schweiz; auf Umwegen dann ins Berner Oberland; nach Bönigen, wo er länger blieb und «oberländerte». Er zieht jedoch seine jetzige Thuner Mundart vor, er findet sie «gmögiger». Ob das auch ein Urteil über die jeweilige Bevölkerung darstellt?
Arbër berichtet von seinen Eltern, dass auch sie das Thema kannten: Überall im Kosovo wird – albanischer – Dialekt gesprochen (ausser in Medien und Ämtern); auf dem Land ausgeprägter. Arbërs Vater, selbst Städter, erkannte oft am Sprechen, aus welchem Dorf jemand stammte. Etwas, was ja bei uns ebenfalls spielte – heute noch spielt?
Sind sie uns wichtig?
Ja, allen bedeutet die Mundart einiges. Werner ist sie viel wert; sie habe mit Charakter zu tun. Barbara meint, wenn sie einen Dialekt hätte, wäre das eine Konstante für sie. Geraldine erkennt darin ein Aushängeschild – und Gesprächsstoff. Es trifft wohl oft zu, dass jemand sich über die Mundart definiert. Allerdings haben wir die Möglichkeit, eine solche anzunehmen – oder eben nicht. Und wir alle kennen Menschen, die selbstverständlich mit zwei Mundarten umgehen. Sie reden mit uns in der einen; dann, am Telefon mit ihrer Mutter «daheim», wechseln sie in eine andere, sogar ihre Stimme verändert sich dabei.
«Sprache muss sich entwickeln, sie hat es immer getan; sie mischt sich mit wechselnden Einflüssen.»
Rebekka Flotron
Konservative behaupten, einen echten, «unverhunzten» Dialekt zu kennen; gibt es den überhaupt? Und ist er, wenn er «primitiver» ist, auch schöner? Daran zweifeln wir. Rebekka nimmt entschieden Stellung: Sprache muss sich entwickeln, sie hat es immer getan; sie mischt sich mit wechselnden Einflüssen – wie gegenwärtig dem Englischen –; in ihrem Wandel liegt Kreativität. Eine Sprache rein halten zu wollen, ist sogar gefährlich, kann zu Streit, Gewalt führen.
Die Mundart schützen?
Es ist uns klar, dass auch Interessantes verloren geht. Vielleicht bleiben die Klänge, der Wortschatz hingegen schmilzt. Finessen fallen weg. Die Globalisierung reduziert die Vielfalt. Die Sprache der Städte oder der grossen Kantone setzt sich durch: eine Frage der Macht. Englische Ausdrücke breiten sich aus. Und die Jugendsprache! Ihre Kinder, berichtet Barbara, importieren gern hochdeutsche Wörter: «Schnürsenkel, Gehsteig». Das hängt natürlich an den Gschichtli, die sie – an den Medien, die wir alle konsumieren.
«Es gab nach dem 2. Weltkrieg, wohl begreiflich, eine Tendenz, Schweizerdeutsch zur Landessprache zu machen – sie scheiterte.»
Entwicklungen sind natürlich, hält Werner fest; was sich nicht bewährt, sind künstlich geschaffene Sprachen (wie im vereinheitlichten Rätoromanisch). Es gab nach dem 2. Weltkrieg, wohl begreiflich, eine Tendenz, Schweizerdeutsch zur Landessprache zu machen – sie scheiterte. (Die berühmte Frage: Ist Schweizerdeutsch eine eigene Sprache? haben wir offen gelassen.)
Soll die Schule sich für die Mundart stark machen? Unsere Meinungen variieren. Sie sollte zumindest ein Bewusstsein dafür schaffen. Doch die immer zahlreicheren MigrantInnen, die Mundart nicht lernen oder jedenfalls nie eindeutig besitzen werden, können durch sie sogar diskriminiert werden. Arbërs Eltern befanden, Mundart zu lernen habe für ihre Kinder keinen Sinn, sie brauchten Hochdeutsch. Beim Radio fragt sich: Soll die Präsentation eher farbig oder für alle verständlich sein? Also im Dialekt – wie gegenwärtig üblich – oder in Hochsprache?
Noch eine Aussage von Arbërs Eltern: Es wäre doch gut, wenn die Schweizer nur sieben Dialekte hätten. Aus unsern eigenen Schlüssen dies: Geraldine sagt, der persönliche Bezug zu Dialekten eröffne ihr Verbindungen zu Mitmenschen aus ganz verschiedenen Regionen. Und Arbër meint, es gebe nichts Schöneres, als mit jemandem dieselbe Sprache zu sprechen – aber mit Varianten.