Die Kieselsteine knirschen unter meinen Füssen. Ich gehe die Einfahrt zum Haus meiner Oma hinauf. Kurz zögere ich, bevor ich auf den vergoldeten Klingelknopf drücke.
Meine Oma ist eine reiche Dame und besitzt ein grosses Haus, das man schon fast unter die Kategorie der Villen zählen könnte. Ich mag meine Oma, weil sie immer so gutmütig ist und mir jeden Wunsch von den Augen abliest. Sie ist auch niemals nachtragend und hilft, obwohl sie schon 93 Jahre alt ist, überall wo sie kann.
Heute bin ich aber nicht hier, um mich in eine Decke zu kuscheln und Kekse zu futtern, wie ich das sonst an solch kalten Wintertagen immer mache. Heute bin ich da, um etwas aus der Vergangenheit meiner Grossmutter zu erfahren.
Der Grund dafür ist der Vortrag, den ich in einer Woche in der Schule präsentieren muss. Mein Thema heisst «Generationen verbinden», und da kann ein kleiner Beitrag meiner Grossmutter ja nicht schaden.
Es geht eine halbe Ewigkeit, bis meine Oma endlich die Tür öffnet. Sie steht lächelnd in der Tür. «Schön, dass du kommst, Linda. Ich habe dich bereits erwartet.» Sie umarmt mich und der vertraute Geruch von Zimt und Vanille steigt mir in die Nase. «Schön dich wiederzusehen Omi, ich habe dich vermisst», nuschle ich in ihre Strickjacke. Sie lässt mich los und sieht mich liebevoll an. «Komm, gehen wir ins Wohnzimmer, Liliane hat frische Kekse gebacken.» Liliane ist die Haushälterin meiner Oma, sie hilft ihr beim Putzen und macht den Rest des Haushaltes. Ich gehe hinter Oma ins Wohnzimmer und setze mich in den Ohrensessel. Liliane kommt herein, sie trägt zwei Silbertabletts, die mit Vanillehörnchen und Kokoskeksen übersät sind. Als sie die Tabletts abstellt, greife ich sofort zu. Mit vollem Mund packe ich mein Material aus dem Rucksack. Ein Schreibblock, Stifte, ein Marker und ein Aufnahmegerät kommen zum Vorschein. Das Aufnahmegerät habe ich mir von meinem Vater geborgt, der als Reporter arbeitet und nur selten zu Hause ist.
«Darf ich das Interview aufzeichnen?», frage ich meine Oma, die gerade den Raum betritt. «Wenn du dir sonst nicht alles merken kannst, ja», antwortet sie mit einem verschmitzten Lächeln. Sie setzt sich auf die Couch gegenüber von mir. Ich suche mein Blatt mit den Fragen hervor und schalte das Aufnahmegerät ein. «Interview mit Lotte Marigan, 93 Jahre. Aufgezeichnet am 22. September 2016. Interviewt von Linda Marigan, 13 Jahre», beginne ich mit Reporterstimme zu sprechen: «Thema: Generationen verbinden für den Vortrag vom 29. September 2016.»
Ich lege das Aufnahmegerät vor mich auf das Wohnzimmertischchen und mache es mir in meinem Ohrensessel bequem. «So, jetzt können wir beginnen, Omi.» «Dann schiess mal los, mein kleiner Reporter.» «Zuerst kannst du ein bisschen erzählen, wer du bist und so.»
«Gut. Ich bin Lotte Marigan und bin 93 Jahre alt. Am 7. Dezember 1923 kam ich zur Welt. Ich lebe schon seit über 40 Jahren in diesem Haus und bin sehr glücklich mit meinem Leben, obwohl die ersten 20 Jahre echt schwer waren…»
«Was ist da passiert?», frage ich interessiert nach. «Das ist eine lange Geschichte, Linda…» «Ich habe Zeit!», erwidere ich schnell. «Nun gut, dann will ich dir erzählen, wie ich aufgewachsen bin…
Ich wurde in Potsdam, in der Nähe von Berlin geboren. Wie du bestimmt weisst, kam der Diktator Hitler 1933 in Deutschland an die Macht. Dieses Ereignis und natürlich der Ausbruch des zweiten Weltkriegs haben meine Kindheit und Jugend geprägt. Ich merkte nicht viel vom Krieg, denn meine Eltern waren sehr wohlhabend und besassen ein grosses Haus. Ich hatte zwei Schwestern, die Hanne und die Lise. Wir verstanden uns gut, was vielleicht auch daran lag, dass wir alle ein eigenes Zimmer hatten… Zur Schule ging ich, bis ich 16 war.
Dann wurde es verboten, da es wegen des Krieges zu gefährlich war. Doch auch wenn ich nicht mehr in die Schule ging, konnte ich den Jungen vom Nachbarhaus nicht mehr vergessen, mit dem ich die 6. Klasse besucht hatte.
Und irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich mich in ihn verliebt hatte…
Ich setzte mich immer häufiger vors Haus und hoffte, ihn irgendwo zu sehen. Aber er tauchte nie auf. Eines Abends, als es schon dunkel war, hatte ich meinen Mut zusammengerafft und lief ohne die Erlaubnis meiner Eltern hinüber zum Nachbarhaus. Ich eilte die wenigen Stufen zur Tür hoch und wollte gerade klingeln, als ich plötzlich einen leisen Pfiff hörte. Ich hielt inne und ging dem Geräusch nach. Da entdeckte ich ein kleines Fenster, das wohl zum Keller führte. Dahinter konnte ich ganz genau die Gestalt des Nachbarjungen erkennen. Ich sprach ihn an, aber er legte sofort den Finger auf den Mund. Ich verstand nicht, warum ich den Mund halten sollte. Ich sprach verärgert weiter, nur diesmal fast flüsternd. Ich fragte ihn, warum er mich hergepfiffen hat, warum ich nicht einfach an der Haustür klingeln konnte und warum ich gottverdammtnochmal so leise sprechen sollte. Er sah mich lange und traurig an und sagte dann, was ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde: ‘Ich bin Jude.
Alle aus meiner Familie sind Juden. Wir werden von den Untergeordneten Hitlers gesucht. Bald werden sie unser Haus entdecken oder es in die Luft sprengen. Meine ganze Familie samt Grossmutter und Grossvater sitzt bei uns im Luftschutzkeller. Nur ich werde manchmal in den Keller geschickt, um Essen zu holen. Aber unser Vorrat ist bald zu Ende. Ich weiss nicht, was ich machen soll! Ich kann ja nicht zusehen, wie meine Familie verhungert, nur weil wir uns nicht mehr aus unserem eigenen Haus wagen!’ Ich wagte es nicht, etwas zu sagen.
Das was er mir zuvor gerade anvertraut hatte, war echt ein riesiges Geheimnis! Das musste ihn ganz schön viel Mut gekostet haben. Eigentlich hätte ich als Christin gleich zu meinem Vater rennen und ihm alles erzählen müssen. Aber ich konnte einfach nicht. Ich musste ihn und seine Familie schützen, obwohl ich ja nicht einmal seinen Namen wusste. Ich versprach ihm, einige Esswaren vorbeizubringen.
Und so kam es, das ich drei Wochen lang jede Nacht aufstand, in unsere Vorratskammer schlich, Brot, Fleisch und andere Esswaren klaute und sie ins Nachbarshaus brachte. Jede Nacht blieb ich etwas länger am Fenster stehen und jede Nacht erzählte er mir mehr über das Leben als Juden. Wir lachten und weinten zusammen und ich fand heraus, dass er Josh hiess. Und obwohl die Umstände schwierig waren, wurde es zur besten Zeit meines Lebens und ich schloss ihn für immer in mein Herz. Er wurde zu meinem besten Freund. Ich hätte alles für ihn getan, damit er und seine Familie am Leben blieben.
Doch auch das hatte ein Ende. Eines Morgens am Frühstückstisch offenbarte meine Mutter uns, dass wir umziehen würden, weil es wegen des Krieges viel zu gefährlich sei, weiterhin hier in Potsdam zu wohnen. Wir würden schon am nächsten Morgen aufbrechen.
Für mich brach eine Welt zusammen. Wie sollte Josh und seine Familie weiterhin überleben, wenn ich ihm nichts mehr zu essen brachte? In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Um Mitternacht stand ich auf, holte eine extra grosse Einkaufstasche und packte alles ein, was ich fand. Brot, eine Hamme, Käse, Milch, eingelegte Gurken, Apfelmuss, einen Sack Birnen, Wein in einem Beutel und so viel Wasser wie ich tragen konnte. Mit meiner Beute eile ich aus dem Haus und ging zum kleinen Fenster.
Josh wartete schon auf mich. Schweigend übergab ich ihm die Esswaren. Er starrte mich mit seinen grossen, wunderschönen Augen an und fragte, warum ich heute so viel brächte. Ich erklärte ihm stockend, was Sache war. Er hörte mir schweigend zu.
Eine Träne kullerte geräuschlos über seine Wange. Mir brach dieser Anblick fast das Herz. Er sagte nichts. Jetzt begann auch ich zu weinen. Er sah mich an, drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit. Das war das letzte Lebenszeichen von ihm.»
Oma schweigt und ich schlucke leer. Nach einer halben Minute frage ich: «Wie ging es dann weiter?» Leise spricht sie weiter: «Als ich wieder nach Hause kam, stand mein Vater vor der Haustür. Sein Gesicht war zornig und er fragte mich, wo ich gewesen sei. Ich war so verdutzt, das ich nur ängstlich zu ihm aufsah. Er gab mir eine Ohrfeige und schrie mich an. Er sagte, dass die Juden schmutzig seien, dass sie der Grund für alles Schlechte wären und all das, was sie mir schon als kleines Kind eingeflösst hatten. Ich glaubte ihm kein Wort. Josh war Jude. Aber er war der liebenswürdigste und ehrlichste Junge auf Erden. Ich schrie meinen Vater an, dass er Unrecht habe und ich lieber bei einem Juden wäre, als bei meinem Vater, der mich schlägt. Er verpasste mir noch einen Schlag und ich wurde ohnmächtig. Ich kam wieder zu Bewusstsein, als der Zug, in dem ich sass, langsam losrollte. Ich sah meinen Vater auf dem Perron stehen. Er kämpfte mit den Tränen. Ich stand auf, öffnete das Fenster und schrie ihm zu, dass er meinen jüdischen Freund nicht verraten solle. Ich sah seine Reaktion nicht mehr, denn der Zug fuhr schon zu schnell. Aber ich bin sicher, er hatte meinen Ruf noch gehört.
Ich schloss das Fenster und begann zu weinen. Mein eigener Vater hatte mich in irgendeinen Zug gesteckt, von dem ich keine Ahnung hatte, wohin er fuhr.
Ich hatte kein Geld und nichts zu essen bei mir. Der Zug, in dem ich sass, brachte mich in die Schweiz. Genauer nach Genf. Dort übernachtete ich am Bahnhof neben irgendeinem Geschäft. Ich bettelte, damit ich wenigsten etwas zu trinken kaufen konnte. Am nächsten Tag fand mich eine ältere Frau namens Silvia. Sie nahm mich bei sich auf und behandelte mich wie ihr eigenes Kind. Ihr Mann Lenard war bereits verstorben und deshalb hatte ich nur sie. Sie war meine zweite Mutter. Sie hat mir geholfen, alle die schlimmen Gedanken und das Geschehene hinter mir zu lassen. Ich konnte wieder zur Schule gehen und fand tolle Freundinnen. Mit 38 Jahren heiratete ich Mark, deinen Grossvater. Er hat mir ein Kind geschenkt, deinen Vater. Wir zogen ihn auf und er war ein lieber kleiner Junge. Als Silvia dann starb, vererbte sie all ihren Besitz an mich, da sie keine anderen näheren Verwandten hatte. Dein Grossvater ist dann vor etwa fünf Jahren gestorben, aber das weisst du ja. Und nun bin ich hier. Eine glückliche, alte Dame, mit einer langen Lebensgeschichte. Und ich glaube, wenn du, Linda, einmal so alt bist, wie ich, dann hast du auch ein sehr aufregendes Leben hinter dir!»
Stille.
«Omi?», frage ich nach einer Schweigeminute. «Ja Linda?» «Weisst du, was mit deiner echten Familie geschehen ist?»
«Ich weiss leider nur, dass sie in den Osten Deutschlands gezogen sind. Meine Mutter hat noch einige Male übers Jugendschutzamt versucht herauszufinden, wo ich wohne, aber ohne Erfolg. Das habe ich allerdings erst Jahre später durch einen Zufall erfahren. Aber ich glaube, es war besser so. Ich hätte nicht wieder im selben Haus wie mein Vater leben können… Das hätte ich nicht ausgehalten.»
«Und weisst du etwas über Josh und seine Familie?», fragte ich nach. Grosser Seufzer meiner Oma. «Nein Linda, ich weiss auch nichts über ihn. Ich kann nur hoffen, dass Hitler sie nicht erwischt hat… Ich habe zwar noch tagelang im Telefonbuch gesucht, aber es gibt viele Juden namens Josh.» Oma atmet tief durch. «Drei Jahre danach hatte ich immer noch Alpträume. Ich sah ihn in einem Konzentrationslager sterben, aber ich weiss nicht, ob es tatsächlich geschehen ist. Auch heute suchen mich manchmal noch solche Träume heim. Ich hatte immer gehofft, dass er eines Tages mit seiner ganzen Familie vor meiner Tür auftauchen würde, aber es ist nie passiert…»
«Glaubst du, dein Vater hat sie verraten?» «Ich weiss es nicht, Linda. Mein Vater hatte einen solchen Hass auf die Juden, dass es ihm durchaus zuzutrauen wäre. Dazu kommt noch, dass er wohl eine ganze Stange Geld dafür kassiert hätte, der alte Geizhals!»
Kurze Stille. Ich greife nach einem Vanillehörnchen und beisse geräuschvoll hinein.
Ich stopfe mir noch zwei Vanillehörnchen in den Mund und beginne meine Sachen zusammenzupacken.
«Willst du noch etwas wissen?» Meine Oma schaut mich fragend an.
«Nein, das ist alles… Ich hätte nie erwartet, dass du eine so schlimme Vergangenheit hattest, Omi… Ich glaube, ich muss meinen Vortrag noch einmal umtaufen.
Zum Beispiel: Wie meine Grossmutter aufwuchs, oder besser: Die Vergangenheit meiner Grossmutter, oder so: Der Beginn des zweiten Weltkrieges, wie meine Oma ihn erlebte, oder so ähnlich…» «Ich sehe, du bist schon sehr kreativ, Linda.» Ich stopfe mir noch zwei Vanillehörnchen in den Mund und beginne meine Sachen zusammenzupacken.
Irgendwann muss das Aufnahmegerät den Geist aufgegeben haben, aber das macht nichts. Omas Geschichte war so beeindruckend und schlimm, dass ich sie so schnell nicht mehr aus dem Kopf bringen werde. Ich verabschiede mich von Grossmutter und Liliane und mache mich auf den Heimweg. Den ganzen Weg nach Hause muss ich über Omas Geschichte nachdenken. Ich bin sicher, mein Vortrag wird ein Knüller! Bei der Sache mit Grossmutters Vater komme ich immer wieder ins Grübeln. Wie schlimm muss es sein, wenn der eigene Vater einen wortwörtlich vor die Türe stellt? Hat er Josh und seine Familie verraten? Ich werde es wohl nie erfahren.
Ich bin froh, dass ich nicht einen so schlimmen Vater habe! Als ich zu Hause ankomme, umarme ich meine Eltern etwas länger als sonst.
Ich bin einfach nur froh, dass ich weiss, dass sie mich unendlich fest lieb haben und mich niemals vor die Tür stellen würden.
Ach und übrigens: Mein Vortrag heisst jetzt
Alles verloren für einen Juden namens Josh – über meine Grossmutter Lotte Marigan.
«Verbinde die Generationen!» – alle Beiträge
Wie geht der Austausch über Generationen hinweg? Der erste Generationen-Wettbewerb in der Deutschschweiz will genau das herausfinden. Die Aufforderung: «Verbinde die Generationen!». Hier erscheinen die besten Einsendungen von Jung und Alt.