«Hat es noch irgendwo Stühle?», fragt Annemarie Voss, die Co-Organisatorin des Events, als sie sieht – etwas gestresst –, dass sich langsam auch die letzten Reihen im Foyer des Kunstmuseum Thun zu füllen beginnen. Der technische Mitarbeiter des Kunstmuseum Thun schüttelt etwas ratlos den Kopf. Vier Klappstühle werden noch aufgetrieben, ein paar Hocker aus dem Kämmerchen geholt. «Die restlichen BesucherInnen müssen wohl mit der Treppe vorliebnehmen.»
Und das taten sie auch.
125 Personen waren dabei, die Stimmung grossartig am Abend des Freitags, 13. Januar – am zweiten Art-Slam von UND Generationentandem in Kooperation mit dem Kunstmuseum Thun.
Viele waren zum ersten Mal dabei
«Wer war noch nie an einem Poetry-Slam?», fragt die Moderatorin des Abends Jovana Nikic (23) ins Publikum. Erstaunlich viele Hände gehen hoch … «Was habt ihr denn in den letzten 15 Jahren gemacht?», antwortet sie darauf gespielt entrüstet.
So fühlte sie sich wohl verpflichtet, diesem Publkum die Regeln des Poetry Slams zu erklären: die Performances dürfen nicht länger als sechs Minuten sein, alle Texte müssen selbst verfasst sein und höchstens 50 Prozent eines Slams dürfen gesungen sein – sonst hätten die gesanglich talentierten SlamerInnen einen Vorteil. Das Publikum lernt auch den stillen Applaus kennen – Hände hoch und schütteln. Dies ist besonders für den Teil des Slams im Museum wichtig. Fünf Jurymitglieder aus dem Publikum werden bestimmt, die den PoetInnen nach jedem Auftritt Noten von 1-10 geben.
Für das Publikum gibt es auch eine Regel: Respect the poet.
«Respect the Poet!»
Jovana Nikic
Und damit beginnt der Abend offiziell.
Ein Krankheitsfalls und eine Meisterin der Spontanität
Vier SlampoetInnen hätten ihre Texte zu den Kunstwerken der Cantonale Berne Jura präsentieren sollen. Und es waren vier, die an diesem Art-Slam am 13. Januar antraten, nur nicht die angekündigten vier … Am 12. Januar postete Sarah Altenaichinger auf Instagram: «Geburtstagsgeschenk» und ein Bild eines positiven Coronatests. Der Virus machte ihr (und uns) leider wieder einmal einen Strich durch die Rechnung – Sarah Altenaichinger musste ihren Auftritt an unserem Art-Slam leider absagen.
Insbesondere die UND-Mitglieder waren aber natürlich begeistert, als die Moderatorin Jovana Nikic verkündete, dass Mara Ludwig (20) – ein langjähriges UND-Mitglied, bekannt als Redaktorin, Autorin und vor allem als Moderatorin des Generationenfestival 2021 – für Sarah Altenaichinger einspringt. Mit etwas mehr als einer Stunde Vorbereitungszeit präsentierte sie zwei elegante und beindruckende Texte, mit denen sich wohl fast alle im Publikum identifizieren konnten: «Elei si» und «Ouge».
Slam-poetische Reise durch das Museum
Mit zwei Texten zu Themen ihrer Wahl massen sich die Slam-PoetInnen. Das Highlight des Abends – und was diesen Poetry-Slam (oder eben Art-Slam) so besonders macht – war aber die slam-poetische Reise durch die aktuelle Ausstellung des Kunstmuseum Thun: Cantonale Berne Jura (noch geöffnet bis zum 22. Januar 2023).
Nach einem ersten Slam auf der Bühne im Foyer teilen sich die BesucherInnen in vier Gruppen auf. Vier HelferInnen von UND Generationentandem laufen jeweils mit einem grossen farbigen Blatt voraus und führten die BesucherInnen von Slam-PoetIn zu Slam-PoetIn.
Die Reise der roten Gruppe begann vor den Kunstwerken von Karoline Schreiber (1968) und mit einer Performance von der Satirikerin Stefanie Grob über «de Härdöpfel ufem Seil» und die Tatsache, dass wir Kunst ganz oft eigentlich nicht wirklich verstehen, sie aber trotzdem schön anzusehen ist.
In ihrem Text zu den Kunstwerken «Alpaca Mountain 1-4» von Sarah Gassmann (1980) versucht Mia Ackermann mit dem etwas klischeebeladenen ehemaligen Kunstudenten Theo, der natürlich aus Judith Butler zitiert, die Alpacas in den Kunstwerken zu finden.
«Abendfrieden Blüemlisalp mit Engelswacht» und «Fünffingerstöcke im Abendschein, Sustenpass» von Hansueli Urwyler (1937) lassen Kay Wieoimmer darüber sinnieren, was «Schweiz» eigentlich bedeutet. Seine Schlussfolgerung sind satirisch, kritisch und natürlich ein bisschen wahr: «Ir Schwiiz liebemer Sicherheit so sehr, das mir so Sache seged wie ‚tschuldigung, wenn jetzt üse Zug füf Minute verspätig het, verwütschi de no de Aschluss, u der Aschluss vom Aschluss u weni jetzt weg dem so füf Minute zspät zu mim Coiffeur-Termin chume, zaut mir de dSBB sHaarwäsche?»
Jovana Nikic springt vor dem Werk «Wetterraum» von Christoph Gugger (1985) für Sarah Altenaichinger ein. Sie präsentiert einen überraschend passenden Text aus ihrem Repertoire: «Der Flickenteppich».
Persönlich, politisch, feministisch
Im Gegensatz zum letzten Art-Slam, der im Herbst 2018 stattfand, wurde den Slam-PoetInnen kein Thema vorgegeben. So waren die Texte inhaltlich enorm vielfältig. Jovana Nikic, Mara Ludwig und Mia Ackermann präsentierten persönliche Texte über das «Frau sein», über ihre grossen Lieben, über ihre Verletzlichkeiten. Auch politisch und feministisch waren die Texte, insbesondere Kay Wieoimmers und Mia Ackermanns Texte beinhalten ganz klare politische Forderungen nach Systemwechsel – auch wenn der Titel «Beziehige si wine Dürüm» (Kay Wieoimmer) vielleicht nicht danach klingen mag.
Mia Ackermann setzte sich schlussendlich gegen die anderen SlamerInnen durch – die Punkteunterschiede zwischen den PoetInnen waren aber minimal.
Inbesondere die erste Performance von Mia Ackermann begeisterte, regte zum Nachdenken an und machte wohl viele Menschen im Raum auch etwas wütend: «Die Geschichte der Zeit» fordert, dass Frauen endlich ihre eigene Geschichte schreiben (können): «Wir schreiben jetzt Geschichten, in denen wir Täter bestrafen und Prinzessinnen regieren.»
Zufrieden, erleichtert
Ein kurzfristiger Ausfall, etwas Unsicherheit darüber, wie viele Menschen dann tatsächlich an diesem zweiten Art-Slam teilnehmen werden und die komplizierte Logistik, die ein solcher Anlass mit sich bringt, forderte die beiden OrganisatorInnen Tabea Arnold (28) und Annemarie Voss (74) zeitweise etwas heraus. Schlussendlich klappte aber alles bestens, es herrschte eine tolle Stimmung, die BesucherInnen waren begeistert.
Sie sind zufrieden mit dem Abend – und natürlich auch etwas erleichtert, dass alles so einwandfrei über die Bühne ging.