Wie immer im Herbst hat man als Büchermensch die Qual der Wahl. Doch Marlene weiss genau, Delia Owens’ «Der Gesang der Flusskrebse» will sie unbedingt lesen. Heidi findet, Flusskrebse und die im Klappentext auftauchenden Stichwörter Marschland und Salzwiesen passen gut zum Herbstferienplan. Die kurze Recherche im Netz wirft lauter Ausrufezeichen aus: 58 Wochen New York Times Bestseller (Stand Ende Oktober), begeisterte Reese Witherspoon auf YouTube, eine anstehende Verfilmung, Vergleiche mit bekanntesten Klassikern der Entwicklungsromane im «Spiegel». Keine Frage – das wunderschön aufgemachte Buch muss man kennen! Heidi hat im Bücherherbst 2019 auch eine Liebe: Pascale Kramer: «Eine Familie». Ein schmaler Band in Rot-Braun, bescheiden aufgemacht, aus dem Schweizer Verlag des Jahres 2019. Auch Pascale Kramer wirbt auf YouTube und gewinnt den Prix du public 2019 du RTS. Eine im Vergleich sehr diskrete Werbung.
Delia Owens: «Der Gesang der Flusskrebse» Hanserblau, 2019
Marlene: Die Familie von Kya, auch das Marschmädchen genannt, bricht auseinander, als sie sechs Jahre alt ist. Nach und nach wird sie zuerst von ihren Geschwistern, ihrer Mutter und schlussendlich ihrem Vater verlassen, und sie bleibt alleine zurück in der Einsamkeit des weiten Marschlandes. Dies ist die eine Geschichte, die erzählt wird. Der zweite Erzählstrang spielt etliche Jahre später; Kya ist mittlerweile eine junge Frau geworden und lebt mit der Natur im Einklang in der Marsch. Zu dieser Zeit wird ein angesehener Bürger von Barkley Cove tot im Sumpf aufgefunden wird. Alle verdächtigen natürlich sofort das Marschmädchen.
Ich habe das Buch sehr gerne gelesen. Ein spannender, gut geschriebener Schmöker zum Mitfiebern für nasskalte Herbsttage. Gegen Schluss war es etwas zu viel Hollywood und Kitsch für meinen Geschmack: Kya, welche keinen einzigen Tag zur Schule gegangen ist, schreibt dann einen Bestseller-Roman. Die Spannung rund um den Mordfall wird während dem ganzen Roman kontinuierlich aufgebaut – meiner Meinung nach kann da die finale Auflösung nicht ganz mithalten. Schlussendlich vergebe ich vier von fünf Sternen und empfehle das Buch wirklich gerne. Owens vermag es, mit geschickten Schilderungen die Leserschaft schnell in ihren Bann zu ziehen. Die bildhaften, poetischen Naturbeschreibungen und die genau gute Mischung aus Unterhaltung und Anspruch machen die oben genannten Punkte wieder wett.
Heidi: Wahrscheinlich das richtige Buch im richtigen Moment: umweltbewusst, nachhaltig, naturnah, mit einer wehrhaften Frau im Mittelpunkt. Viele Sehnsüchte finden hier Erfüllung: einfachstes Leben in unberührter Natur, «Freiheit» in einer kaum geregelten Gesellschaft. Paradiesisch. Kein Wunder, dass es Tausende in allen Kanälen aufgreifen und Parallelen suchen. Behände, wie heutige junge Menschen auf ihren e-Trottis durch die Strassen, kurvt Kya in den späten 50er Jahren im klapprigen Boot durch die Salzgärten North Carolinas. Sie sammelt Muscheln und räuchert Fische, die sie lokal verhökert. Sie ernährt sich karg, verwertet notgedrungen alles Vorhandene. Alles, was sie weiss, und das ist viel, hat sie sich selbst beigebracht. Sie ist nie zur Schule gegangen und ist am Schluss dennoch gebildet. Die Autorin ist Zoologin und versieht ihre Geschichte mit zwar interessanten, aber irgendwie den Erzählfluss störenden Informationen zu Vögeln und anderen Tieren. Sie beschreibt aber wunderbare Stimmungen und verweist auf die Schönheiten der Natur. Die Geschichte hat noch weitere Ebenen: Die unglücklichen Lieben der mittlerweile zu einer hinreissenden Frau herangewachsenen Kya – da gibt es für mich zu viele kitschige Szenen; der gekonnt und spannend aufgebaute Krimi – allerdings mit einer etwas abrupten Auflösung auf den letzten Seiten; die vielen – zu gefühligen Gedichte. Entsetzt bin ich über die Instrumentalisierung der Verwahrlosung der kleinen Kya für die Hymne auf das einfache Leben und insgesamt vom Buch nur mässig begeistert.
Pascale Kramer: «Eine Familie» Edition Blau Belletristik im Rotpunktverlag, 2019
Heidi: Das neueste Buch der schweizerisch-französischen Autorin ist in der Anlage ähnlich wie Simone Lappert «Der Sprung», das wir in der letzten Ausgabe von «Ausgelesen» vorgestellt haben. Die eine Geschichte wird aus dem Blickwinkel verschiedener Personen erzählt. Kramer konzipiert aber ungleich schlichter und damit – meines Erachtens – wirkungsvoller: Zwei Tage im Leben einer Familie in Bordeaux: Die kleine Jeanne wird geboren, Grosseltern und Geschwister sind sich in diesem emotionalen Moment so nahe, wie schon lange nicht mehr. Bloss Romain, der älteste Bruder, alkoholkrank und Sorgenkind der Familie, steht nicht an der Wiege. Romain bestimmt mit seinen Abstürzen seit Jahren das «Funktionieren» der Familienmitglieder untereinander und gegen aussen. Auch jetzt, da alle seinen neuerlichen Absturz befürchten, trübt er die Freude über das Neugeborene. Die fünf Familienmitglieder schildern, wie sie mit Sucht und Randständigkeit in der eigenen Familie umgehen. So kann der Leser tief in die jeweiligen Beziehungen und in die widersprüchlichsten Gefühle eintauchen und sich selbst zum Thema befragen. Während die gutbürgerlichen Eltern sich mit dem Unangepassten schwer tun und immer hoffen, «alles werde irgendwann irgendwie gut», stellen sich die Geschwister den Tatsachen. Sie helfen, wo nötig; verschweigen, wo einfacher, und nehmen den Bruder an, wie er eben ist. Wunderbar präzise Sprache, wunderbar tiefgründig, wunderbar zwingend dadurch, dass nie alles gesagt wird. Ein starkes Stück Literatur: differenziert, mitten ins Herz zielend.
Marlene: Ein glücklicher Tag: Lou, die Tochter von Danielle und Oliver, bringt ein Kind zur Welt, Jeanne. Lous Geschwister, Mathilde und Edouard, reisen beide aus weiter Entfernung an, um dem Wiegenfest beizuwohnen. Nur einer fehlt und trübt mit seiner Abwesenheit die Stimmung: ihr drittes Kind, Romain. Schon als Jugendlicher dem Alkohol verfallen, heute alkoholkrank, lebt er nun seit einiger Zeit in Paris auf der Strasse. Die Familie sorgt sich um ihn, fürchtet ihn aber zugleich. Nun ist er wieder in der Gegend. Pascale Kramer erzählt in 48 Stunden die Geschichte von Romain, aus den fünf Blickwinkeln der Familienmitglieder. Damit ergibt sich ein dichtes Geflecht; die Vorgeschichte erschliesst sich und das Empfinden jeder Figur wird deutlich. Man merkt, wie extrem wenig es braucht, um die Familie aus der Fassung zu bringen, aber alle versuchen, aus Höflichkeit einen gewissen Anschein zu bewahren. Eine Fassade, welche bröckelt. Eine gut geschriebene Geschichte, ein schwieriges Thema. Pascale Kramer schreibt tiefgründig, nachdenklich, authentisch. Mir hat es gut gefallen. Ein Buch, welches nachhallt.
Ausserdem gelesen:
Marlene:
Gianrico Carofiglio: «Drei Uhr morgens», Folio, 2019: Nachdem mir Heidi dieses Buch wiederholt ans Herz gelegt hat, habe ich es schlussendlich gekauft. Zum Glück! Die einzige Schwachstelle an diesem Buch ist, dass es zu kurz ist. Die Geschichte spielt in Marseille, wo Vater und Sohn, welche bis zu diesem Zeitpunkt kein besonders gutes und enges Verhältnis zueinander hatten, aufgrund eines medizinischen Tests 48 Stunden lang wachbleiben müssen. Der Sohn ist 17 Jahre alt, der Vater 50, und mit ihnen beiden wandern wir in diesen Tagen und Nächten gemeinsam durch Marseille, und diese 48 Stunden werden sie für immer verbinden. Jede Zeile dieses Romans ist ein Genuss und ich spreche meine wärmste Empfehlung für diese Geschichte aus.
Stephen King: «Das Institut» Heyne, 2019: Die neueren Werke vom «Meister des Horrors» gehe ich stets kritisch an; dünken mich doch die alten Geschichten unerreicht und nicht vergleichbar mit den neuen. «Das Institut» hat mich jedoch positiv überrascht. In einem ruhigen Vorort einer Großstadt in Amerika wird der 12-jährige Luke von zwei Eindringlingen entführt und in den sogenannten «Vorbau» des Instituts verfrachtet. Im Institut wohnen viele andere Kinder, welche wie Luke paranormal veranlagt sind. Das hartnäckige Gerücht geht um, dass Kinder, welche in den Hinterbau umziehen mussten, dies nicht überlebt haben. Als schlussendlich seine Freunde in ebendiesen Hinterbau ausquartiert werden, wird Lukes Gedanke an eine Flucht immer drängender. Der klassische Kampf von Gut gegen Böse mit sehr menschlichen, authentischen Protagonisten, die schnell ins Herz geschlossen werden. Ich habe die 800 Seiten verschlungen – und bin der Meinung, dass dieser Roman es problemlos mit den älteren Werken von King aufnehmen kann.
Heidi
Sonja M. Schultz: «Hundesohn» Kampa, 2019: Ein einziges Elend für den Protagonisten: Habe und Liebe verloren, ohne berufliche Perspektive, die Jahre im Knast, die ihm anhängen; ganz zu schweigen von all den Vergeltungsschlägen, die im Hamburger Milieu drohen. 300 Seiten schwere und unerfreuliche Lesekost und dennoch: Welch ein Debüt, packend von der ersten bis zu letzten Seite! Diesen Roman soll man sich unbedingt antun, denn Sprache und Aufbau sind grossartig. Es entstehen Szenen einer (hoffentlich) unbekannten Welt, kompromisslos, knallhart, mit schnellen Dialogen.
Katrin Hirt; Laura Fuchs: «Ein Nashorn namens Clara» NordSüd, 2019: Ein Bilderbuch für Kinder ab 5-6 Jahren und auch noch für Grundschüler. Das Nashorn Clara ist im 18. Jahrhundert tatsächlich von einem niederländischen Kaufmann aus Indien nach Europa gebracht und da auf ausgedehnten Tourneen zur Schau gestellt worden. Zahlreiche zeitgenössische Bilder in Museen und Büchern bezeugen dies. Das Bilderbuch zeichnet die Geschichte Claras nach. Die Historikerin Hirt hat sorgfältig recherchiert und eine Erzählung gestaltet, die Kinder wie Erwachsene fesselt. Gut zum Vorlesen; zusammen mit den opulenten Illustrationen und der genau richtigen Dosis Information kann sich jedes Kind gut vorstellen, wie gross die Aufregung über das exotische Tier war, und es bekommt gleichzeitig einen Eindruck von der damaligen Lebensweise.