Zu unserem ersten Treffen kommen wir gleich beide mit einem Tipp, womit wir unsere Maiausgabe von «Ausgelesen» starten könnten. Marlene schlägt ihr Lieblingsbuch 2019 («bis jetzt!») vor, nämlich Sarah Kuttner: «Kurt». Heidi empfiehlt Julian Barnes: «Die einzige Geschichte», weil es darin gleichermassen um Jung und Alt geht. Was meint wohl die andere dazu?
Sarah Kuttner: «Kurt»
Heidi: Das Cover schreit es uns entgegen. Vier rote Buchstaben KURT auf schwarzem Grund, die Farben für Liebe und Tod. Auch alle drei Kapitel des Romans sind überschrieben mit KURT (I, II, III). Es geht um den 5-jährigen Kurt, den kleinen Sohn vom grossen Kurt. Er ist knuddelig, anstrengend, pfiffig und lebt in zwei Haushalten. Einerseits bei seiner Mutter und andrerseits beim grossen Kurt und Lena im neuen Haus, ausserhalb von Berlin. Dann fällt er vom Klettergerüst und alles gerät aus dem Lot. Kein Leben, kein Haus, keine sinnvolle Zweisamkeit mit dem toten kleinen Kurt in der Mitte. Gibt es Worte für ein solches Leid? Kuttner hat sie. Sie beschreibt eigentlich Unsagbares und zielt damit mitten ins Herz der Leser. Ein gut geschriebenes, ehrliches Buch, das fesselt und bestürzt. Meine Frage dazu bloss: Was nehme ich daraus mit für mich selbst? Ich werde hoffentlich nie in diese Situation kommen, dann aber sicher meinen eigenen Weg finden müssen.
«Ach, dieses Buch!»
Marlene Hiltpold
Marlene: Ach, dieses Buch! Wie bereits in der vorherigen Ausgabe erwähnt, habe ich mich als grosser Kuttner-Fan schon lange darauf gefreut und kürte es gleich nach der Lektüre zu meinem vorläufigen Lieblingsbuch des jetzigen Jahres. «Kurt» ist eine Geschichte über Trauer und Abschied, die Charaktere so fein und liebevoll gezeichnet, dass man sie am liebsten in den Arm nehmen möchte. Ein schönschlimmes Buch, das nachhallt und nach dem man einige Tage Lesepause einlegen muss.
Ausgelesen – die Rubrik: Wir (Marlene und Heidi) sind zwei Frauen in verschiedenem Alter, die mit und von Büchern leben. Diese Chance, unsere Ideen zusammenzutragen, wollen wir uns nicht entgehen lassen: Junge und Alte gleichzeitig ansprechen, auf Bücher aufmerksam machen, die das Potential haben, beide Generationen zu bereichern. Unser Ziel ist natürlich vor allem, zum Lesen zu animieren und mit kontroversen Besprechungen oder gemeinsamer Begeisterung die Neugier neuer Leser wecken.
Julian Barnes: «Die einzige Geschichte»
Marlene: Die Geschichte handelt vom 19-jährigen Paul, der sich in die 48-jährige, verheiratete Susan verliebt, die er im Tennisklub kennengelernt hat. Er lebt mit seinen Eltern in einer bürgerlichen Siedlung im Süden von London und ist gelangweilt von diesem Milieu. In Susan findet er den passenden Gegenpart, die beiden ziehen zusammen und geniessen die leidenschaftliche Anfangszeit einer neuen Beziehung. Doch schon bald zeigt sich der Alltagstrott und Susan beginnt, dem Alkohol zu verfallen. Barnes malt gekonnt brillante Stimmungsbilder, wechselt geschickt die Erzählperspektiven und fordert den Leser gezielt heraus, indem er bewusst Sachen weglässt.
Grundsätzlich hat mir die Geschichte gut gefallen, einen Punkt Abzug gibt es für die Langatmigkeit, die sich besonders im letzten Teil des Buches bemerkbar macht, das Ende hätte man meiner Meinung nach etwas kürzer fassen können. Schlussendlich aber ein schöner, tiefgründiger Roman mit wunderschönen Metaphern.
Heidi: Als alter Mann schaut Paul zurück auf die Liebesgeschichte, die ihn geprägt hat. Er lässt zu Beginn den jungen Paul zu Wort kommen, der die aufkeimende, unmögliche Liebe des Studenten zur reifen, verheirateten Frau beschreibt. Es gibt einen Skandal, die Liebenden fliehen. Leidtragende ist vor allem die Frau, die alles verliert und sich mit Alkohol tröstet. Nun wechselt der Roman in die Du-Form und es wird fast eine Anklageschrift, um nicht zu sagen eine Rechtfertigung für Pauls Entlieben und seinen Rückzug. Der Schluss ist eine Reflexion in der dritten Person über die Lust des Liebens und die erste Liebe, die ein ganzes Leben bestimmen kann. Für mich ein tiefgründiger, wunderschön komponierter Roman.
Ausserdem gelesen
Heidi: Dacia Maraini: «Drei Frauen», Folio, 2019. Maraini, die grosse Italienerin, Gefährtin von Moravia, Autorin von «Die stumme Herzogin». Sie zaubert in diesem Kabinettstück um Grossmutter, Mutter und Enkelin mit Stimmen und Stimmungen. Die drei Frauen sind auf einander angewiesen und leben im selben Haushalt. Sie haben sich in ihren jeweiligen Welten eingerichtet, bis ein Mann alles durcheinander wirbelt. Wie sie sich neu finden und sich ihr weiterhin gemeinsames Leben zum puren Glück (das sind die letzten Worte des Romans) entwickelt, ist eine Lesereise wert!
Claire Christian: «Du bringst mein Leben so schön durcheinander», Thienemann, 2019. Es geht um eine Liebesgeschichte zwischen zwei 17-Jährigen und darum, wie die beiden sich gegenseitig beim Lösen ihrer massiven Probleme helfen. Kein aussergewöhnliches Thema im Jugendbuch. Doch wie es die australische Autorin angeht, welch vielschichtige literarische Formen das Buch aufweist und wie es von Bettina Obrecht übersetzt ist, das ist tatsächlich aussergewöhnlich und verdient ganz grosse Beachtung bei Jugendlichen und Erwachsenen.
Marlene: Andrea de Carlo, Das wilde Herz, Diogenes, 2019: Mara verbringt den Sommer wie jedes Jahr in ihrem alten, baufälligen Haus in Ligurien. Dort arbeitet sie an ihren Katzen-Figuren aus Ton, welche international hoch gehandelt werden. Zu Beginn des Sommers stürzt das Dach ein, wobei sich ihr Mann das Bein bricht und seither die Rolle des beleidigten Ehemannes spielt, was die Stimmung sehr anspannt. Da taucht plötzlich Handwerker Ivo auf, welcher schon mit einem Fuss im Gefängnis steht, und bietet Mara an, das Dach zu einem Spottpreis zu reparieren. Da kann Mara natürlich nicht nein sagen, obwohl ihr Mann klar dagegen ist… Eine spannende Dreiecksgeschichte, welche im ländlichen, spröden Hinterland Italiens spielt. Die perfekte Einstimmung auf den Sommer!
Simon Beckett, Die ewigen Toten, Wunderlich, 2019: Endlich ist er da, der neue Hunter-Krimi! Inzwischen ist es der 6. Band der Serie und einmal mehr hat man das Buch in zwei, drei Stunden atemlos verschlungen und ist sich reuig, es nicht noch etwas aufgespart zu haben. Die Geschichte spielt hauptsächlich im stillgelegten St. Jude Krankenhaus in London, welches so detailliert und atmosphärisch beschrieben ist, dass die Leserin und der Leser das Gefühl haben, er sei selbst dort mittendrin. Per Zufall werden dort einige Leichen gefunden, welche alle ein fortgeschrittenes Verwesungsstadium aufweisen, und David Hunter wird für den Fall beigezogen. Typisch für Beckett werden der Leser und die Leserin wieder auf falsche Fährten gelockt und die Story ist gespickt mit interessanten forensischen Informationen. Wie immer ein absolutes Lesevergnügen, welches leider immer viel zu schnell wieder vorbei ist!