
Ali Smith: «Herbst», Luchterhand, 2019
Das Buch der mehrfach ausgezeichneten schottischen Autorin wird als erster Brexitroman gehandelt. Man kann ihn auch als eine Geschichte Englands der letzten Jahrzehnten lesen oder aber als Roman über ein ganz besonderes Generationentandem.
Marlene: Für mich als grosse Herbstliebhaberin war es klar, dass ich dieses Buch lesen muss, nachdem ich das schlichte, aber hübsche Cover auf dem Büchertisch erspäht hatte. Der erste Band des geplanten Jahreszeitenquartetts liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Die Hauptfigur ist Daniel Gluck, 101 Jahre alt, wird in seinen letzten Tagen von der 32-jährigen Elisabeth betreut, für welche Daniel ein Vaterersatz und Mentor war. Er war es, welcher Elisabeth zum Lesen motiviert hat, mit ihr stundenlang diskutiert und philosophiert hat. Nun will sie in seinen letzten Stunden für ihn da sein.
««Herbst» ist kein Buch, welches nach Feierabend gelesen werden kann, um den Kopf etwas abzuschalten.»
Marlene
Ich muss ehrlich sein – für mein erstes Buch im neuen Jahr hätte ich mir etwas «Leichteres» gewünscht. Ich musste mich zu Beginn ein bisschen durchquälen, bis ich einen Zugang gefunden hatte. «Herbst» ist kein Buch, welches nach Feierabend gelesen werden kann, um den Kopf etwas abzuschalten. «Herbst» will, dass die Leserschaft sich mit seiner Sprache, seinen Metaphern auseinandersetzt, es gibt keine stringente Handlung, die sich durch das Buch zieht. Nichtsdestotrotz hat mir das Buch gut gefallen, die Sprache, die Thematik – für mich momentan einfach nicht das richtige Buch.
Heidi: Fantastische Welten wechseln sich mit grotesken Realitäten ab; mal kurze Kapitel, mal längere, mal befinden wir uns im Jahre 2016, mal in den 1990er oder den 1960er Jahren. Einfach zu lesen ist Herbst nicht, doch durchhalten lohnt sich – und wie! Zum Beispiel wegen der Geschichte des Generationentandems Daniel (101) und Elisabeth (30). Mit der Frage «Was liest du gerade?» holt Daniel Elisabeth bei ihren Leseerlebnissen ab, taucht gleich selber mit ein und eröffnet ihr neue Welten. Dann im Herbst, da er 101 Jahre alt wird, dämmert Daniel im Pflegeheim. Elisabeth hütet nun Daniel und begleitet ihn mit grosser Dankbarkeit in seinen letzten Tagen. Durch ihn hat sie Pauline Boty entdeckt, die Begründerin der britischen Pop-Art, und wird selbst Kunstwissenschafterin. Von ihm hat sie von Christine Keeler und von der Profumo-Affäre gehört, die England 1963 erschütterte. Mit diesem Wissen kann sie 2016 die grotesken Szenen im britischen Alltag als Folge des Brexitreferendums einordnen. Dank Daniel weiss sie, dass und wie Denken Spass macht.

Ausserdem gelesen:
Heidi:
Michael Schophaus, «Schnee: eine Liebeserklärung an den Winter», AT Verlag, 2019: Winterlich eisblauer Einband. Eisblau sind auch Vorsatz, Paginierung, die Leads der Kapitel und das Lesebändchen. Vor jedem neuen Beitrag eine eisblaue, ganzseitige Winterfotografie; die Texte in vornehmer, leicht (eis)grau getönter Schrift gesetzt. Eine Augenweide ist dieses Buch! Wie gemacht als Geschenk für Bibliophile, für Wintersportfans oder für Menschen, die gerne Reportagen lesen. Der deutsche Journalist und Sportwissenschafter ist ein harter Hund und schreibt gern darüber. Er scheut keinen Steilhang, er kennt den Winter auf der ganzen Welt und weiss viele und spannende Geschichten dazu. Das Buch fürs Nachttischchen in den Skiferien. Da stören das manchmal etwas ausgiebige Gefrotzel mit anderen harten Hunden und der sehr originelle Schreibstil nicht so sehr.
«Wisst ihr noch: Benoîte Groult, «Salz auf unserer Haut»? In den Achtzigerjahren war das doch DER erotische Bestseller, den wir alle verschlungen haben.»
Heidi
Wisst ihr noch: Benoîte Groult, «Salz auf unserer Haut»? In den Achtzigerjahren war das doch DER erotische Bestseller, den wir alle verschlungen haben. Wir wussten, dass er autobiografisch gefärbt ist. Was es tatsächlich damit auf sich hat und vor allem, wodurch die Autorin sonst noch beeindruckt, das lesen wir jetzt in Benoîte Groult, «Vom Fischen und von der Liebe», Ullstein, 2019. Mehr als zwanzig Sommer verbrachte die Autorin in ihrem Familienhaus in Irland bei harter Arbeit. Sie hatte ein eigenes Fischerboot, Reusen und Netze. Fast täglich brachte sie mehrere Kilos Garnelen und Fische nach Hause, nahm sie aus, flickte die Netze, machte das Boot wieder flott und schrieb danach Tagebuch, in dem sie auch ihr ménage à trois reflektierte. Ehrlich, unverblümt, präzise, lustig. Das Buch ist vielleicht nicht eben jugendfrei, Schund ist es aber bei weitem nicht. Dafür bürgt die Autorin und Journalistin, die immerhin Commandeur der Ehrenlegion war, sowie die sorgfältige Edition der Texte durch Groults Töchter.
Marlene:
Susan Kreller, «Elektrische Fische», Carlsen, 2019: Susan Kreller hat eines meiner Lieblingsbücher, «Schneeriese», geschrieben. Dementsprechend waren die Erwartungen hoch – und sie wurden absolut erfüllt. «Elektrische Fische» ist ein Jugendbuch, und genau wie «Schneeriese» eines, welches genauso gut von Erwachsenen gelesen werden kann. Kreller schreibt poetisch, ohne aufgesetzt zu wirken, liebevoll, direkt. Es geht um Emma und ihre Familie, welche von Irland nach Deutschland, in den leeren und langweiligen Ort Velgow ziehen. Emma fühlt sich alleine und fühlt sich nicht wohl, bis sie sich mit dem Jungen Levin aus dem Nachbardorf anfreundet. Obwohl sie meist still nebeneinander im Sand sitzen und auf die Ostsee gucken, entwickelt sich eine besondere, zarte Freundschaft zwischen ihnen. Auch er fühlt sich nicht besonders wohl, was hauptsächlich aber mit seiner eher schwierigen Familiensituation zusammenhängt. In dem Buch kommen viele verschiedene Themen zusammen: psychische Erkrankungen, Heimweh, erste Liebe. Mir hat die Geschichte sehr sehr gefallen. Ein Buch, bei welchem ich seitenweise Passagen mit Bleistift unterstrichen habe.
«Marieke Rijneveld schreibt von den tiefsten Abgründen des Menschseins.»
Marlene
Marieke Lucas Rijneveld, «Was man sät», Suhrkamp, 2019: Die 12-jährige Jas bemerkt vor Weihnachten, dass ihr Vater ihr geliebtes Kaninchen mästet. Aus Angst betet sie zu Gott, dass dieser anstelle des Kaninchens ihren Bruder nehmen soll. Am gleichen Tag am Abend bricht ebendieser beim Schlittschuhlaufen ein und ertrinkt im Eiswasser. Die Familie zerbricht an der Tragödie: Die Eltern wissen nicht, wohin mit ihrer Trauer, und vergessen dabei, sich um ihre verbliebenen Kinder zu kümmern. Diese versuchen, auf ihre Art mit dem Tod ihres Bruders fertigzuwerden und haben gleichzeitig mit den Tücken des Erwachsenwerdens zu kämpfen. Ein verstörendes, düsteres Buch und nur für hartgesottene Leser und Leserinnen zu empfehlen. Während und nach der Lektüre war ich angeekelt, ratlos. Marieke Rijneveld schreibt von den tiefsten Abgründen des Menschseins, und dies tut sie gekonnt, in einer sehr bildhaften Sprache. Ein Roman, dessen Figuren einem noch lange im Kopf herumgeistern und der von den Lesenden viel abverlangt.
Ausgelesen – die Rubrik: Wir (Marlene und Heidi) sind zwei Frauen in verschiedenem Alter, die mit und von Büchern leben. Diese Chance, unsere Ideen zusammenzutragen, wollen wir uns nicht entgehen lassen: Junge und Alte gleichzeitig ansprechen, auf Bücher aufmerksam machen, die das Potential haben, beide Generationen zu bereichern. Unser Ziel ist natürlich vor allem, zum Lesen zu animieren und mit kontroversen Besprechungen oder gemeinsamer Begeisterung die Neugier neuer Leser wecken.