Der Film Heavenly Nomadic überlässt vieles der persönlichen Interpretation. Die Handlung ist auch am Schluss nicht offensichtlich, es ist unser Empfinden, das den Film vollendet. Wie interpretieren Menschen aus zwei verschiedene Generationen einen so subjektiven Film, in welchem es auch um den Zusammenprall verschiedener Generationen geht? Werner und Corina haben sich getrennt voneinander ins Kino gesetzt und den Film auf sich wirken lassen. Was ihr anschliessender Vergleich ergeben hat und wie sie den Film verstanden haben, zeigt dieser Beitrag.
Eine Jurte steht im kargen kirgisischen Tal, wo eine Nomadenfamilie ihren Tätigkeiten nachgeht. Meist geschieht dies schweigend, mit wenig Dialog, aber vielen Geräuschen der Natur im Hintergrund. Die Familie besteht aus den Grosseltern, die vor ein paar wenigen Jahren ihren Sohn bei einem tragischen Unglück verloren haben, als er ein Pferd aus dem Fluss retten wollte. Sie sind noch heute verbittert und traurig. Bei ihnen lebt die verwitwete Schwiegertochter, welche sich in einen Fremden aus der Stadt zu verlieben droht.
Die Grosseltern haben Angst, dass sie weggeht. Ihr Enkel studiert in der Stadt und kommt für die Ferien nach Hause. Er bringt Geschenke mit, Dinge, die es auf dem Land nicht gibt. Seine Schwester ist noch sehr klein, aber voller Energie und Freude. Die beiden Geschwister verbringen viel Zeit miteinander. Obwohl die Schwiegertochter sich nach der Liebe des fremden Meteorologen sehnt, bringt sie es nicht über das Herz, die Familie zu verlassen. Als eines Tages der Grossvater unerwartet stirbt, bleiben drei Frauen alleine zurück.
Fiktiver Einblick
Im Kino identifizieren wir uns meist mit einer Figur des Films. Wie war das bei Corina und Werner? Während sich Werner für den Grossvater entschied, versetzte sich Corina in den nach Hause zurückkehrenden Studenten.
«Von der Grossstadt zurück aufs Land: Ich bin die Verbindung zwischen Tradition und Moderne»
Corina Gall: Auch wenn ich in der Stadt Architektur studiere, bin ich stolz auf meine Wurzeln. Ich mag das Moderne, die Stadt, wildes Treiben in Diskotheken – Mädchen kennenlernen. Neugierig fragt mich meine Schwester Umsunai, was ich denn am Stadtleben so mag. Bereits beim Wort Diskothek schaut mich meine Schwester verwirrt an. Sowas gibt es nicht, da, wo ich herkomme und jetzt meinen Sommer verbringe. Es ist eigentlich mein Zuhause, doch fühle ich mich manchmal ein wenig fremd. Ich habe viel Respekt vor meinen Grosseltern, unserer Tradition als Nomaden und dem Leben mit der Natur.
Mit meinem Leben in der Stadt lässt sich dies nur sehr schwer vereinbaren. Meine Schwester ist noch so klein und bereits das grosse Herz der Familie. Mein Grossvater hofft, dass ich eines Tages in seine Fussstapfen treten werde. Doch wozu studiere ich Architektur, wenn ich danach ins Nomadenleben zurückkehren soll? Ich werde nicht zurückkommen. Und insgeheim wissen das alle. Die Stille an diesem Ort und der Menschen hier bereitet mir Mühe. Ich liebe meine Familie, und die Arbeit mit dem Vieh erfüllt mich mit Stolz, doch die Stadt zieht mich hier weg. Das Leben findet für mich woanders statt.
«Ich bin der Grossvater, der hier die Verantwortung trägt.»
Werner Kaiser: Man nennt mich Karatschatch. Ich bin der Chef hier. Ich trage Verantwortung. Seit Generationen leben wir in unserer Jurte, mit unsern Pferden, aber nun kündigen sich Änderungen an. Eine Eisenbahn soll durch unser Tal fahren. Wie soll es weiter gehen? Mein Enkel studiert in der Stadt. Das tut weh, aber er muss eine Zukunft haben. Schaiyr, unsere Schwiegertochter, ist die Seele des Hauses. Aber bald einmal wird sie sich verlieben und mit einem Mann davonziehen. Umsunai, die kleine Enkelin, lacht und springt. Sie ahnt noch nichts von all dem. Sie bringt Erfrischung und Freude in unser karges Leben. Es ist hart hier, aber ich möchte nicht in der Stadt wohnen.
So stehe ich denn oft vor unserer Jurte, still, nur in der Seele bewegt. Ich schaue in die Weite des Tals. Ich beobachte unsere Pferde. Ich rede nicht viel. Schweigen tut gut. Ich fühle mich wie ein Baum beim Nahen eines Gewitters. Ich habe Wurzeln und warte auf den Sturm. Die andern zählen auf mich. Es liegt an mir. Ich treffe Entscheidungen. Doch ich bin alt. Wie geht es weiter, wenn ich nicht mehr da bin?
Ich stehe hier, vor unserer Jurte. Ich stehe und schweige. Ich fühle Kraft.
So unterschiedlich haben Jung und Alt den Film erlebt:
Corina Gall: Die Bilder, die der Film zeigte, fand ich atemberaubend. Es könnten Bilder in einer Fotogalerie sein, ein Reisebericht eines Abenteurers, der gerade aus Kirgistan zurückgekehrt ist. Ein bisschen weckte der Film in mir auch Reiselust. Dabei blieb es aber auch. Das Nomadenleben beeindruckte mich, doch das Leben dieser Familie hatte auf mich eine beklemmende Wirkung. Beklemmend, weil sich die Kamera kaum bewegt – oft sind es Standbildaufnahmen – , die Menschen im Film sind extrem in sich gekehrt und unangenehm schweigend. Oft bleiben nur Blicke und die Personen wenden sich voneinander ab, ohne sich auszusprechen. Wollte der Regisseur, dass man sich diese Dialoge selbst ausdenkt? Die erdrückende Stille macht den Film so besonders. Ich konnte mir die Geschichte selbst ausdenken, während der Film die Bilder dazu bot. Persönlich bevorzuge ich jedoch klare Worte und Gespräche. Die Natur ist endlos, grenzenlos sieht man in die Weite und doch fühlte ich mich irgendwie eingesperrt in diesem Netz aus Traditionen, Erwartungen und Enttäuschung, die nie richtig ausgesprochen wurden. Mir wurde durch den Film bewusst, wie wichtig es mir ist, Dinge zu thematisieren und zu diskutieren. Oder kann schweigen auch eine wertvolle Fähigkeit sein?
Werner Kaiser: Der Film hat mich tief ergriffen. Das Geschehen ist auf das Elementare reduziert. Die wenigen gesprochenen Worte fallen in das grosse Schweigen der Landschaft. Vieles ist angetönt, wird jedoch nicht ausgesprochen. Es gibt kaum Handlung, aber die Spannung zwischen dem Nomadenleben und der Bedrohung durch die Zivilisation zieht sich durch den ganzen Film. Ich persönlich liebe das Schweigen, schon als Kind zog ich mich gerne zurück. Der Film muss eine archaische Schicht in mir angesprochen haben. Vielleicht stellt er mir die Frage, wie ich selber die Ruhe, das Natürliche, das Archaische in meine Alltagswelt hinüberretten kann. Wie ich mit Verkehrsmitteln und Computer leben kann, ohne der Hast und der Zerstörung anheimzufallen.
Hintergründe zu den AutorInnen dieses Texts
Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen erwecken fast den Eindruck, die beiden hätten nicht denselben Film gesehen. Geschieht dies bei Filmen generell? Oder handelt es sich um einen Film, der besonders viele Interpretationen entstehen lässt? Spannend ist auch die Frage, ob diese verschiedenen Wahrnehmungen auf unterschiedliche Charaktere oder doch auf den Generationenunterschied zurückzuführen sind? Corina Gall und Werner Kaiser haben sich bei ihrem Treffen auf Anhieb gut verstanden. Zwei Menschen aus verschiedenen Generationen und mit verschiedenen Charakteren haben den gleichen Film gesehen und ihn sehr unterschiedlich wahrgenommen. UND Generationentandem bot die Möglichkeit, eine ganz andere Sichtweise zu erfahren und zu sehen, wie die eigene Wahrnehmung alles andere als objektiv ist.