
Bücher sind nicht für alle Menschen lebensnotwendige Güter. Noch können Bücher online gekauft und nach Hause geliefert werden. Sollte eine Lieferung nicht mehr möglich sein, bleiben dennoch ebooks und eaudios zum Runterladen. Alle vorgestellten Neuerscheinungen sind in einer elektronischen Version erhältlich und teilweise in der Digitalen Bibliothek Ihrer öffentlichen Bibliothek vorhanden. Vielleicht gibt es gar einen Stapel ungelesener Bücher im Haus, es fehlt der zündende Funke, welches zuerst gelesen werden soll, und eines davon wird eben hier empfohlen?
In Corona-Zeiten ist alles anders, auch unser «Ausgelesen». Wir besprechen dort jeweils ein bis zwei Bücher gemeinsam und ergänzen unter der Überschrift «Ausserdem gelesen» mit weiteren Leseerlebnissen. In der April-Ausgabe 2020 werden wir es bei zwei Doppelbesprechungen belassen und fassen die vier für «Ausserdem gelesen» vorgesehenen Titel in diesem Beitrag zusammen. Weil grad so viel Zeit zum Lesen winkt, haben wir gleich auf sechs schöne Titel aufgerundet. Wir hoffen, das eine oder andere Buch treffe auf neue Liebhaberinnen und Liebhaber.
Marlene:
Bov Bjerg, «Auerhaus», Aufbau Verlag, 2016: Dieses Buch ist mir beim Ausmisten meines Bücherregals in die Hände gefallen. In dieser Geschichte geht es um eine WG, die unter besonderen Umständen zustande kommt: Ausschlaggebend war der Suizidversuch von Frieder. Die sechs Freunde versuchen nun, ihn von einem weiteren abzuhalten. Das Wohnen im Auerhaus mit diesen sehr unterschiedlichen Freunden gestaltet sich chaotisch, lustig und liebenswert. Ich habe das Buch in einem Rutsch durchgelesen, gelacht und geweint dabei. Von der vermittelten Grundstimmung her hat es mich sehr an «Tschick» von Wolfgang Herrndorf erinnert. Junge Menschen, die versuchen, ihre Träume und Visionen abseits von Mainstream und Bünzlitum zu leben. Mir gefällt‘s.
Morgane Ortin, «Du wirst mein Herz verwüsten», Blumenbar, 2020: Das modernere «Gut gegen Nordwind». Zwei Personen schreiben sich nach dem ersten Treffen SMS – alles, immer, überall. Die Leserschaft begleitet das Paar über das erste Kennenlernen und über wichtige Fragen wie «Was ist das mit uns?». Mehr möchte ich über den Inhalt gar nicht erzählen, da ich sonst zu viel verrate. Mich hat das Buch gleich von der ersten Seite an – oder, besser gesagt vom ersten SMS – überzeugt. «Ich bin nicht in meinem Normalzustand und möchte nichts Unnormales sagen, aber ich wünsche dir die schönste Nacht, seit die Nacht Nacht ist und die Welt Welt.» Hach!
Heidi:
Anne Tyler, «Der Sinn des Ganzen», Kein & Aber, 2020: In Micahs Leben hat alles seine Ordnung. Montag ist Bodenwischtag, Dienstag Küchentag, Mittwoch aufräumen und so weiter. Danach joggen, arbeiten, abhängen mit Cass. So mag es Micah. Überfordert ist Micah, wenn er zwischen den Zeilen lesen muss, etwa, wenn Cass etwas von ihm erwartet und es nicht ausspricht, oder als plötzlich ein junger Mann vor ihm steht und behauptet sein Sohn zu sein. Sein Alltag wird zunehmend von Unerwartetem und unberechenbaren Emotionen aus dem Tritt gebracht. Glücklicherweise merkt er rechtzeitig, dass Kontrolle gut, aber nicht alles ist. Die Geschichte des Kontrollfreaks ist herzergreifend, das Umfeld so gezeichnet, dass man sich als Teil davon fühlt. Eben ein typischer Anne Tyler-Roman.
Erica Pedretti, «Engste Heimat», Suhrkamp, 2002: Die 1930 in Sternberg geborene Künstlerin versucht nach über dreissig Jahren auf einer Reise in Mähren die Orte ihrer Kindheit und die Stimmungen von damals einzufangen. Doch: Wie war es denn wirklich? Was ist bloss subjektive Erinnerung? Was war damals richtig, was ist heute falsch? Eine lineare Erzählung ist ihr unmöglich. Dauernd blitzen neue Erinnerungsfetzen auf, funken und funkeln dazwischen, formen sich zu einzelnen kurzen und längeren Texten. Die 190 Seiten regen zum Nachdenken an, lassen Leser ruhig werden und die wunderbare Sprache geniessen. Das Buch ist in einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe erhältlich und ergänzt die Churer Ausstellung «Erica Pedretti. Fremd genug».
Denise de Vigan, «Dankbarkeiten», Dumont, 2020: Eine alte Dame hat für und durch Sprache gelebt, sie war früher Korrektorin. Nun verliert sie nach und nach die Wörter, sucht sie und findet manchmal das richtige, manchmal ein ähnlich lautendes und leidet dabei unendlich. Denn sie möchte noch Danke sagen für etwas, das ihr vor vielen Jahren das Leben gerettet hat. Zwei junge Menschen begleiten sie und helfen ihr liebevoll, ja fast mit Zärtlichkeit. Schliesslich steht der Dankesbrief. Für Michka ist damit die letzte Lebensaufgabe vollendet. Die vielfach preisgekrönte Autorin hat eine kleine Kostbarkeit geschaffen über das Gefühl alt und abhängig zu sein, über Begegnungen von Alt und Jung, über die Schönheit des richtigen Wortes zur rechten Zeit. Wunderbar.
Anne Petry, «The Street – Die Strasse», Nagel & Kimche, 2020: Man stelle sich vor, dieser Roman erscheint erstmals 1946 und zudem: Eine Afroamerikanerin schreibt ihn, kann ihn veröffentlichen und macht damit Furore. In den 40er-Jahren sind Autorinnen prinzipiell weiss und die Geschichte über farbige Bewohner der 116. Strasse in Harlem ist nicht eben ein Society-Thema. Dennoch ist das Buch schon damals eine Sensation und ist es heute in der deutschen Übersetzung erneut. So frisch die Sprache, so verblüffend modern und filmisch die Erzählweise und leider derart unverändert ungelöst die Rassenfrage. Zudem ist die Geschichte noch heute alltagsnah. Lesen! Bitte!
Digital Natives = digitaler Eingeborener
Als Digital Natives werden Personen bezeichnet, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind und ein Leben ohne digitale Medien nicht kennen.