
Es gehört definitiv zu den Büchern, von denen alle reden und die kaum jemand gelesen hat*: Das fand ich bestätigt, als ich’s doch versucht habe – auf deutsch allerdings. Um mir wirklich ein Bild zu machen, musste ein Kenner her; darum unterbreite ich hier persönliche Ansichten von Saro Marretta (80), dem früheren Gymnasiallehrer, einem, der sich lebenslang damit befasst hat.
Die «Göttliche Komödie» ist ein dickes Buch in Versen, in 100 «Gesängen», worin der Dichter selber, geleitet von schützenden Vorbildern unter den Toten, eine Reise durch die drei Bereiche des Jenseits absolviert. Die Bereiche fordern unsere Fantasie heraus: Die Hölle («Inferno») stellt einen sich verengenden Trichter ins Erdinnere dar – zuunterst sitzt der Teufel; auf mysteriöse Weise gelangt man auf die Rückseite der Erde mit dem Läuterungsberg («Purgatorio») – nicht gerade unserem Fegefeuer –, der stufenweise ansteigt; und das Paradies erhebt sich in den Lüften, immateriell, in Kreisen, Gott zuoberst. Unterwegs trifft Dante eine Unzahl von Verstorbenen an, uralte wie zeitgenössische, mit denen er spricht.

Ein reichhaltiges Buch
Ein umfangreiches Wissen spiegelt sich in diesen Gestalten, welche wir oft keineswegs kennen – auch ein Hindernis für heutige Leser. Der gelehrte Dichter hat sich viel angelesen: So sind die schlimmsten Verräter zuunterst in der Hölle: Judas und die Mörder von Julius Cäsar. Andrerseits: Wenn wir ein Zeitbild des italienischen Mittelalters erhalten möchten, erfahren wir viel. Und die kunstvolle poetische Sprache sei, sagt Saro Marretta, jedenfalls für Italienischsprachige durchaus zugänglich. Dante gilt mit seinem Toskanisch als Vater der italienischen Sprache; viele seiner Formulierungen sind in den allgemeinen Gebrauch eingegangen. Es sei nicht bloss der Klassiker, den man lesen muss – sondern den man lesen müsse, weil er so gut sei. So farbig, so fantasievoll in seinen Bildern. Wobei die Hölle besonders Wirkung entfaltet, denn sie führt plastische, «sichtbare» Figuren vor. Wogegen im Himmel vieles nebulös bleiben muss, das heisst: sich in Licht auflöst. Gott zu schauen wird dem Lebenden nicht gegeben sein.
Bei allem Ernst spielt auch der Humor oft mit; die Sprache lebt, oft erscheint sie sehr lautmalerisch. Das Werk heisst übrigens «Commedia», weil doch das Leben eine Komödie sei. Lebendig und realistisch kommt der Dichter namentlich in seinen Angriffen daher, in den Tiraden, die er auf alle und alles loslässt, was er hasst. Zwar entscheidet hier der Teufel, wer in die Hölle gehört; aber eigentlich richtet Dante. Saro Marretta findet, dieser sei der kompromissloseste, direkteste unter den italienischen Autoren. Seine persönlichen Feinde prangert er an, manchmal noch lebende – aber auch ganze Städte (seine Heimat Florenz, die ihn vertrieben hat: «un gran bordello»), ja ein Italien, das in einem Zustand wie unter Berlusconi erscheine. Die Kirche bekommt ebenfalls ihr Fett weg, auch die Päpste; selbst im Paradies teilt Dante noch Kritik aus, etwa dem Dominikaner-Orden.
Denn Dante war zweifellos gläubig, aber nicht im üblichen katholischen Sinn. Gott, der nicht redet, geheimnisvoll bleibt, ist für ihn die Perfektion. Und Gottes Gesetze gilt es absolut einzuhalten – auch kirchliche Würdenträger tun das oft nicht. Dante will Ordnung herstellen. Er kann als Vorläufer der Reformation gelten. Er fordert, nicht nur zu glauben, sondern gut zu handeln. Ein moralisches Buch also, wenn auch mit eigenwilliger Moral. (Mohamed übrigens hat er in die Hölle verbannt.)

Eine Begegnung in der Hölle
Ein Beispiel, das die Art des Werkes illustrieren mag: Im fünften Gesang des «Inferno» begegnet Dante der Francesca da Rimini mit ihrem Liebhaber Paolo, eng umarmt, beide soeben durch ihren Ehemann ermordet. In der Umarmung werden die beiden bleiben müssen. Weil Gottes Gesetz den Ehebruch verdammt (zweiter Kreis der Hölle: Wollust), ist die Strafe gerecht – auch wenn Dante sein Mitleid mit den Liebenden äussert. Wie ein solcher Text aussieht (in der Übersetzung) und wie die Toten hier erscheinen, soll ein kurzer Ausschnitt vorführen – Dante spricht zum römischen Dichter Vergil, der ihn hier begleitet:
Ich sagte: «Dichter, ach, ich spräche gern
Die beiden Schatten dort, die nie sich trennen
Und die dem Winde scheinen leicht von fern!»
«Von nahem», sprach er, «wirst du sie erkennen;
Wenn bei der Liebe, die sie treibt, befragt,
So werden sie nicht widerstehen können.»
Sobald wie sie der Sturm zu uns gejagt,
Rief ich sie an: «O Seelen, so im Schweren,
Kommt, sprecht mit uns, wenn Gott es nicht versagt.» (Übersetzung: W. Hertz)
Die Divina Commedia hat keine literarischen Vorbilder, auch keine Nachfahren. Gewiss wurde viel über die Natur des Jenseits spekuliert; aber Dantes Wurf bleibt einzigartig.
Lesen! Oder lieber noch sich einzelne Szenen von Saro Marretta vortragen, ja -spielen lassen.
*Anmerkung, die ich mir als alter Leser leiste: Solche Bücher wären etwa: Cervantes’ «Don Quichotte»; Tolstois «Krieg und Frieden»; die mehrbändige «A la Recherche du temps perdu» von Proust; «Ulysses» von James Joyce; Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften»…
Saro Marretta stammt ursprünglich aus Sizilien. Er hat sich (nicht nur in Bern) einen Namen gemacht als Autor von Lehrbüchern für Italienisch, von Kriminalgeschichten, von Kochbüchern, besonders auch durch sein Wirken für und sein Schreiben über die Eingewanderten, wie in «Piccoli Italiani in Svizzera».
Auf Youtube findet man die göttliche Komödie auch als Hörbuch.
Etwa so klingt es, wenn die Engel singen…
O mio babbino caro von Giacomo Puccini
https://www.youtube.com/watch?v=s9PQ7qPkluM
Und hier noch eine Dokumentation von Arte zu Dantes Inferno:
https://www.youtube.com/watch?v=se5Qd13nHdk