Gotthold Inderbizin wurde 1868 in Brig geboren. Er hatte ein hübsches Gesicht und wuchs zu einem kräftigen Burschen heran. Von seinem Vater lernte er das Handwerk des Schmiedes.
Seiner Mutter gefiel es nicht, dass er mehrere Liebschaften nebeneinander hatte. Sie sprach mit dem Pfarrer darüber. Dieser suchte gerade Anwärter für die Schweizergarde im Vatikan und meldete Gotthold umgehend an. Der Junge durchschaute den Trick der Mutter und lehnte ab.
Er musste aber trotzdem gehen, denn die Familie und die Gemeinde waren stolz, dass einer von ihnen vom Papst die Zusage erhielt. Der Vater versprach ihm ungewöhnliche Abenteuer und die Mutter den Segen der Jungfrau Maria.
Gotthold litt unter dem sinnlosen Drill und dem scheinheiligen Männerstaat. Ihm fehlten die Frauen. Als ein Kardinal ihm noch Avancen machte, stahl er eine Mönchskutte und desertierte. Obschon er noch wenig Italienisch sprach, konnte er immer wieder Bäuerinnen und Bauerntöchter bezirzen, die ihm Nachtlager und Essen bereitstellten.
Mönch wollte er nicht werden und Bauer schon gar nicht. Gezogen vom Heimweh wanderte er nach Norden. In Mailand legte er seine Kutte ab, nannte sich Pedro und half über den Winter einem Hufschmied. Er realisierte, dass er als quasi Staatenloser keine eigene Schmiede aufbauen konnte. Zu seinen Eltern zurück konnte er auch nicht. Vermutlich wäre er in einem Briger Gefängnis gelandet.
Da erinnerte er sich, als Knabe die Schmuggler bewundert zu haben. Er schlüpfte wieder in die tarnende Kutte und wanderte zielstrebig bis ins Valle Antigorio. Dort hörte er sich um und wurde schliesslich vom Schmugglerboss Don ins heisse Geschäft eingeführt. Kraft und Intelligenz kamen ihm zugute. Er wurde nie erwischt. Don starb zwei Jahre später in einer Schiesserei und Pedro übernahm den Schmugglertrupp. Um seinen Speisezettel zu erweitern, wilderte er mit einer Armbrust. Sie war leiser als ein Gewehr. Den grössten Steinbock erlegte er mit einem selbst geschmiedeten Pfeil.
Als Pedro genug Geld hatte, kaufte er sich eine neue Identität und baute sich in Domodossola ein Haus. Er handelte fortan mit Marmor, den er von Italien in die nördlichen Länder exportierte. Wie viele Kinder er hatte, wusste er nicht. Das einzige Kind, das er mit seiner Ehefrau hatte, Balthasar, wurde – auf Wunsch der Mutter und zu seinem Entsetzen – Priester. Darum legte Pedro im Alter sein Vermögen in Form von teurem Schmuck an. Er schmiedete sich eine Truhe aus Eisen und Kupfer und legte die schönen Geschmeide hinein. Bevor er zu schwach wurde, vergrub er die Truhe in der Nähe eines Schmugglerpfades – im Andenken an den Beginn seiner Karriere. Wer diese finden würde, war ihm egal, aber niemand sollte mühelos sein Erbe antreten können. Er hatte schliesslich hart dafür arbeiten müssen.
Nach Pedros Tod fand sein Sohn im Keller einen Plan. Dieser zeigte nur eine grobe Skizze des Weges über den Albrunpass sowie einer Schatztruhe. Auf dem Deckel der Truhe waren ein blauer Pfeil abgebildet und die Buchstaben NW. Balthasar hatte genug von seinem Priesteramt und wollte mit seinen zwei inoffiziellen Töchtern ans Meer ziehen. Dafür brauchte er aber dringend Geld. Er fluchte über seinen Vater und grübelte tage- und nächtelang, wie er wohl den Schatz finden könnte. Was sagte der geheimnisvolle Pfeil und was bedeuteten die zwei Buchstaben?
Beim Räumen des Hauses fand er Schusswaffen und eine Armbrust. Er schmiss sie auf den Haufen Waren, die er einem Trödler verkaufen wollte. In der folgenden Nacht träumte er von einem wilden Kampf aus früherer Zeit, als noch mit Speeren und Schwertern gefochten wurde. War das ein Hinweis Gottes, dass er in Gefahr war und kämpfen lernen musste? Er war ratlos, denn er hatte nie schiessen gelernt. Erst am Nachmittag, als er mit dem Trödler verhandelte, kam ihm blitzartig die Idee, der Traum könnte ein Hinweis auf die Armbrust und auf Pfeile sein. Er legte die Waffe beiseite und suchte im ganzen Haus verzweifelt nach Pfeilen. Erst in der Nacht fand er zwei Köcher in einem Mauerspalt, den er noch nie beachtet hatte. Kein Pfeil war blau. Suchte er in der falschen Richtung? Er kannte die Lebensgeschichte seines Vaters und suchte darum Rat bei einem Schmuggler, der ihm einmal einen Mord gebeichtet hatte. Der Schmuggler sagte nur, mit einer Armbrust habe der Pfeil nichts zu tun, merkte sich aber den Plan. Er kannte die Zeichen seiner Branche und dachte, er würde die Truhe finden.
Balthasar fühlte sich schlau genug zu spüren, wo der Schmuggler log und entschied, das Gegenteil auszuführen. Schon am nächsten Tag ritt er mit einem bewachten Trupp über den Simplon und von Brig weiter durchs Goms bis ins Binntal hinauf. Er vermutete, der Vater habe seinen Schatz im Wallis vergraben, also auf der Nordseite des Passes. Der Schmuggler hingegen packte seinen Esel und ging auf dem kürzesten Weg auf die Südseite des Passes. Heftige Gewitter zwangen ihn, in einer Alphütte Unterschlupf zu suchen. In aller Frühe des nächsten Tages stiegen beide gegen den Reichtum verheissenden Pass hinauf. Der Schmuggler suchte nach einem blauen Pfeil und Balthasar nach irgend einem blauen Zeichen auf den Felsen. Der Schmuggler hatte einen Nachteil: Er musste öfters Deckung suchen, denn Grenzsoldaten durchstreiften ausgerechnet an diesem Tag die Gegend. Und seine Berufskollegen wollte er ebenso wenig treffen wie den Pfarrer. Am ersten Tag suchten beide vergebens. Erst am zweiten Tag, als Balthasar wieder abstieg, fand er einen blauen Punkt auf einem alten Grenzstein. Die beiden Buchstaben NW bedeuteten wahrscheinlich, dass der Schatz nordwestlich von hier vergraben war. Doch wie weit weg von hier? Er suchte sorgfältig nach einer Stelle, wo die Erde lockerer war. Plötzlich stand er vor einer Herde Steinböcke, die keine Anstalten machten zu fliehen. Hatte nicht Pedro von Steinböcken erzählt? Da musste ein Zusammenhang bestehen. Er ging zurück zum blauen Punkt und dachte nach. Der blaue Pfeil, das musste der Metallpfeil sein, mit dem sein Vater den grössten Steinbock erlegt hatte. Er legte den Pfeil auf die Armbrust. Wie hoch sollte er zielen? Klar! In die Höhe eines grossen Steinbocks. Mit seinem Kompass zielte er genau nordwestlich und schoss. Der Pfeil flog ziemlich weit, aber er würde ihn finden.
Der Schmuggler hatte den Pfarrer am Nachmittag beobachtet, sich dann aber wieder gegen Süden gewandt. Balthasar hatte davon nichts gemerkt. Nach etwa dreissig Schritten fand dieser den bläulich schimmernden Metallpfeil in einem Felsen steckend. War das ein Wunder? Als er den Felsen befühlte, stellte er fest, dass die Oberfläche aus grau bemaltem Holz bestand. Mit seinem Dolch löste er den Mörtel, welcher den Holzdeckel festhielt. Er rüttelte am Pfeil und hielt kurzum die Holzplatte in den Händen. Im Fels befand sich ein Loch, das mit Steinen angefüllt war. Hoffentlich hatte sich Vater keinen Scherz erlaubt und ihm Steine vererbt! Er schaute um sich und erschrak. In der Dämmerung sah er überall Schatten, die sich bewegten. Schnell legte er den Deckel zurück und setzte sich darauf. Der Pfeil verletzte ihn an der linken Hand. Verflucht, war er ein Anfänger! Er keuchte und schaute wieder um sich.
Gab es hier Gespenster? Er sah schliesslich nur Tiere, die langsam davon trotteten. Und Gras, das sich im Wind bewegte. Er fasste sich wieder und öffnete den Deckel erneut. Ohne auf die Wunde an seiner Hand zu achten, warf er einen Stein nach dem andern hinter sich.
Da, endlich; etwa zwei Ellen tiefer spürte er Metall. Er entfernte weitere Steine und zog dann eine relativ kleine Truhe hinaus. Enttäuscht fragte er sich, was wohl darin sein könnte. Die Schatulle war nur mit einem dicken Draht verschlossen. Mit etwas Mühe öffnete er sie. Sie war voller Schmuck! Es war zu dunkel, um zu sehen, ob er wertvoll war. Balthasar füllte den ganzen Inhalt in seinen Tornister um und legte die Schatulle, einige Steine und das Brett wieder zurück. Erst jetzt kam eine Mischung aus Triumph und Angst in ihm auf. Jauchzen hätte gut getan, aber er wollte sich nicht verraten. So murmelte er nur beruhigende Gebete und stieg langsam wieder ab. Als er eine Schmugglerkolonne herauf kommen sah, versteckte er sich hinter einem grossen Felsen. Dann verband er seine Wunde und legte sich dort zum Schlafen hin. Es wurde die kälteste und längste Nacht seines Lebens. Er träumte vom Vater, den er bloss schmunzeln sah.
Sobald es heller wurde, suchte er die Kupferplatte, die auf dem Boden der Schatulle gelegen hatte. Mit Mühe entzifferte er seines Vaters letzte Weisheit, die darauf eingeritzt war: „Wenn du über den Plunder in dieser Kiste und über deine Habgier schallend lachen kannst, bist du frei. Lebe wohl.“ Balthasar war verwirrt. War alles billiger Plunder in seinem Tornister? Er rannte den Pass hinunter und suchte im Gasthaus schnell sein Zimmer auf. Dort befühlte er die Ware und biss hinein: das war echtes, schweres Gold. Die Edelsteine glänzten so schön, dass es nur teure sein konnten. Warum also sollte er darüber lachen? Vielmehr spürte er die Angst der Reichen im Nacken. Nach einem ausgiebigen Essen nähte er allen Schmuck in eine enge Hose ein. Diese zog er an und darüber eine zweite, weitere Hose. Das war nicht bequem, aber relativ sicher. In zwei Tagesreisen schaffte er den Weg zurück.
Einen Tag später kam der Schmuggler zu ihm. Balthasar offerierte ihm ein schönes Gehalt, wenn er auf der Reise in den Süden sein Bewacher sein wolle. Der Schmuggler traute ihm jedoch nicht und lehnte ab. Der Geliebte seiner Töchter übernahm das Amt des Bodyguards.
In Venedig genossen Balthasar und seine Töchter die Vergnügungen und Spiele so exzessiv, dass sie schon ein Jahr später mittellos da standen. Die Töchter waren entsetzt. Balthasar aber lachte schallend. Als sie ihn fragten , was denn daran so lustig sei, antwortete er nur: «Das ist das Geheimnis des blauen Pfeils – das Geheimnis meines Vaters.»