Anfang: Werner Kaiser (79)
Der Engel Gabriel wurde letzthin ungeduldig und sprach bei seinem Meister vor. Es sei jetzt mehr als 2000 Jahre her, dass er das Jesuskind ankündigen durfte, und geschehen sei letztlich nichts. Es genüge ein Blick auf die Erde, um zu sehen, dass es nicht besser sei als vorher. Er bitte nun gnädigst um die Erlaubnis, eine Erkundigungstour auf der Erde zu machen, damit endlich Massnahmen ergriffen werden könnten.
Fortsetzung: Annemarie Voss (72)
Nach Beratung des allmächtigen Himmelsrates wurde dem Begehren stattgegeben, auch wenn nicht viel Hoffnung bestünde. Man habe ja den Menschen die Freiheit gegeben, für ihr Tun und Lassen selber Verantwortung zu tragen. Gabriel landete also in der Adventszeit mitten in Europa in einer mittelgrossen Stadt. Auf diesen Lärm war er nicht vorbereitet. Er verharrte eine halbe Stunde in Schockstarre. Dann schaute er sich um, überall leuchtete und glänzte es, es waren viele Sterne aufgehängt, scheinbar vermissten die Menschen den Dreikönigsstern. Aber niemand schaute wirklich hin, die Menschen waren in Eile. Er belauschte Gespräche: «Ich bin so froh, dass der ganze Stress in zwei Wochen vorbei ist» sagte eine junge Frau zu ihrer Begleiterin. «Das kannst du laut sagen. Franks Eltern haben sich bei uns eingeladen, die sind so anspruchsvoll und ich hetze herum, um ein passendes Weihnachtsgeschenk zu finden. Am liebsten wäre ich irgendwo, wo man von Weihnachten nichts weiss.»

Gabriel war erstaunt und ein leichter Schwindel erfasste ihn. Ein junger Mann sprach ihn an: «Sie sehen schlecht aus, sie sollten sich hinsetzen» und führte ihn zu einer Bank aus Metall. Gabriel spürte die Hand des Mannes in seiner Tasche und fragte sich, was der Mann da suchte. Gabriel hatte leere Taschen, wie der junge Mann schnell bemerkte. «Geht es? Ich muss weiter. Und dann noch schöne Weihnachten.» Und schon war er im Gewimmel verschwunden.
Fortsetzung Werner Kaiser (79)
Gabriel beschloss, Europa zu verlassen, er wollte sich noch weiter auf der Erde umsehen. Es wäre sicher falsch, von einer Stadt auf die ganze Christenheit zu schliessen. Was er vorfand, war allerdings nicht viel besser. In den USA herrschte grausamer Kapitalismus, in Afrika verwehrten korrupte Despoten dem Volk ihren Anteil an den Bodenschätzen, in China liess sich kaum mehr atmen.

Gabriel kehrte nach Europa zurück und setzte sich in einem Stadtpark auf eine Bank. Er war niedergeschlagen und ratlos. Plötzlich hörte er eine Kinderstimme. «Bist du ein Engel?» Kinder spüren so etwas. «Ja, ich bin Gabriel». Das Kind kletterte zu ihm auf die Bank. «Warum bist du traurig, Engel?» – «Ich bin traurig, weil die Menschen so böse sind.» – «Bin ich auch böse?» – «Das weiss ich nicht. Was denkst du?» – «Manchmal bin ich böse. Aber jetzt habe ich viele Strohhalme in die Krippe gelegt.» – «Strohhalme?» – «Ja, wenn wir etwas Gutes getan haben, dürfen wir Kinder immer einen Strohhalm in die Krippe legen, damit das Christkind weich liegen kann, wenn es an Weihnachten kommt.»
Gabriel fühlte sich sonderbar. Wahrscheinlich hätte er geweint, wenn Engel weinen könnten. «Habe ich auf meinen Reisen wohl etwas übersehen?»
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Weihnachtsgeschichte II: Teilen vereint
Weihnachtsgeschichte III: Die heutigen drei Könige aus dem Abendland