Josef Leibundgut spaziert in der Parkanlage in der Nähe des Schulhauses seiner Enkelin Giulia und seines Enkels Francesco. Er weiss, dass Giulia durch den Park und den angrenzenden kleinen Wald nach Hause laufen wird. Er hat seine beiden Enkel schon mehrmals unbemerkt beobachtet. Manchmal war Giulia allein und lief vorsichtig nach Gefahren witternd durch den Wald. Manchmal war sie in Begleitung ihrer besten Freundin Stella und die beiden hüpften übermütig und Schabernack treibend über Wege und Wiesen. Francesco rannte meistens begeistert inmitten einer Schar ballspielender Jungen hinter dem Ball her.
Hallo Nonno, was machst du hier?
Die ersten Kinder verlassen nach Schulschluss das Schulhaus. Als Josef nach Giulia Ausschau hält, wird er sich plötzlich bewusst, dass es in den heutigen Zeiten Misstrauen erwecken kann, wenn ein einsamer Mann in der Nähe eines Schulhauses Kinder beobachtet. Er entfernt sich unwillkürlich mit raschen Schritten vom Schulhaus und setzt sich am Waldrand im Schatten der Bäume auf eine Bank und liest im «Anzeiger», der seit kurzem – Synergien nutzend und Personalkosten sparend – in München produziert wird. Aber er kann sich nicht auf die Lektüre konzentrieren. Einerseits gibt es viel zu sehen. Mütter im Gespräch oder im virtuellen Spiel mit ihren Handys, welche die Welt um sich und ihre vergeblich um Aufmerksamkeit heischenden Kinder kaum wahrnehmen. Spaziergänger mit ihren dressierten, parktauglichen Hunden; Rentnerpaare, welche die frische Luft und die wärmende Nachmittagssonne an diesem herrlichen Dezembertag geniessen, tausende Blätter, die sich auch in diesem Jahr wieder verspätet vom kräftigen Grün in mattes Gelb und Braun verwandelten. Und der Gedanke plagt Josef, ob er wirklich hier auf Giulia warten darf. Wie wird sie reagieren, wenn sie ihn unverhofft antreffen wird? Nach der langen Zeit, in welcher der Kontakt mit den Eltern von Giulias und Francescos Vater nicht mehr erwünscht ist. Eigentlich will er Giulia auch heute nur sehen, ohne dass sie ihn bemerkt. Nur gut, dass sein Frau Maria nichts von seinem heimlichen Treiben weiss.
Josef entdeckt Giulia durch die Bäume hindurch. Sie ist allein und wittert. Hat sie ihn schon im Radar? Er steht auf und verdrückt sich hinter einen knorrigen Baum und beginnt, diesen mit seinem Handy zu fotografieren. Vergeblich. Sie hat ihn bereits entdeckt und läuft direkt auf ihn zu.
«Hallo Nonno, was machst du hier?»
«Hoi Giulia, schön, dich zu sehen. Ich fotografiere diesen Baum. Ich finde, er sieht fast so aus wie ich!»
«Wie du? Du bist doch kein Baum.»
«Schau ihn genau an. Er ist alt, knorrig, der Stamm ist noch ganz gut erhalten, aber die Äste sind schon ganz kahl und die Blüten verwelkt.»
«Ja klar Nonno, es ist Herbst, schon fast Winter. Im Frühling werden die Bäume wieder Blätter und Blüten tragen.» Nach kurzem Zögern fügte sie schalkhaft lächelnd hinzu. «Genau wie du und Nonna. Aber du machst doch keine Fotobücher mehr, seitdem du pensioniert bist.»
«Komm, lass uns auf diese Bank sitzen. Weisst du, ich mache noch einen letzten Band, mit Fotos und lyrischen Texten. Über die Schönheit der Natur. Über das Wunder der Jahreszeiten, darüber, wie alles untergeht im Herbst und im Frühling wieder mit neuer Kraft aus dem Boden schiesst, um sich in der Hitze des Sommers in der ganzen Pracht zu entfalten.»
Schau ihn genau an. Er ist alt, knorrig, der Stamm ist noch ganz gut erhalten, aber die Äste sind schon ganz kahl und die Blüten verwelkt.
«Wenn Paps wüsste,» erwidert Giulia nachdenklich.
«Er muss es nicht wissen.»
«Er ist so nervös in letzter Zeit und hat nie Zeit für Francesco und mich. Und du und Nonna kommt auch nicht mehr.» Giulia kämpft mit den Tränen.
Nonno streicht ihr sanft übers Haar. Sie lässt ihn gewähren und scheint die Berührung zu geniessen. «Du musst ihn verstehen, Giulia. Dein Vater hat momentan viel Stress und Kummer mit seinem Geschäft. Aber er wird seinen Weg finden.»
«Kannst du ihm nicht helfen, Nonno? Du hast doch mit deinen Büchern viel Geld verdient und weisst immer alles.»
«Das ist vielleicht genau Robertos Problem. Und weisst du, das Geld war mir nie wichtig. Wir brauchen es zum Leben, wie alle Menschen, aber es war nie mein Ziel. Mit meinen Fotobänden und Texten will ich meinen Lesern etwas zeigen, wo es nicht nur um Besitz und Geld geht, sondern um Gefühle und die Geschichten der einzelnen Menschen.»
«Und deshalb kannst du Paps nicht helfen?»
«Er braucht meine Hilfe nicht. Im Gegenteil, ich muss verstehen und akzeptieren lernen, dass ich momentan Teil seines Problems mit mir bin und nicht Teil der Lösung.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Musst du auch nicht. Darüber müssen nicht wir beide uns den Kopf zerbrechen. Traurig ist nur, dass ihr Kinder und Nonna davon betroffen seid. Du musst jetzt nach Hause gehen, sonst macht sich deine Mutter Sorgen. Wie geht es Chiara überhaupt?»
«Mami hält uns zusammen. Wenn sie nicht wäre…»
«Siehst du, es gibt immer auch Positives, das wir sehen müssen und nicht nur Probleme. Nonna und ich finden es ganz toll, wie eure Familie durch dick und dünn zusammenhält. Wir sind in Gedanken oft bei euch und wir haben euch alle sehr, sehr lieb, Giulia. Und nun geh.» Josef küsst sie zum Abschied auf die Stirn.
Giulia steht langsam auf, legt ihre Hand auf seine Schulter und fragt leise:
«Unser Treffen bleibt unser Geheimnis, oder Nonno?»
Nonno steht auf und hebt feierlich die rechte Hand in die Höhe: «Ich schwöre es.»
«Sehen wir uns wieder mal hier, Nonno?»
«Wenn es der Zufall will.»
«Kann uns dein Zufall nicht auch Nonna zufallen lassen?»
«Ich kann nicht zaubern, Liebes. Aber vielleicht du?»
«Warum?»
«Vielleicht zauberst du das nächste Mal deinen Bruder aus der Tasche!?»
«Kein Problem, ich locke ihn mit seinem Ball. Francesco läuft jedem Ball nach und zaubert mit ihm die unglaublichsten Kunststücke. Bald ist Weihnachten. Ich bin schon zu gross, um an das Christkind zu glauben. Ich glaube lieber an diesen alten, knorrigen, wunderschönen Baum, hinter dem du dich zufällig verbergen wolltest vor mir.»
Giulia lächelt schelmisch. Endlich.
«Und im Frühling wird er wieder in voller Blüte dastehen», träumt Josef laut vor sich hin.
«Ich habe heute in der Schule Weihnachtskugeln gebastelt. Als Weihnachtsgeschenk für Nonna. Sollen wir zwei Kugeln an den Baum hängen? Er soll unser geheimer, geschmückter Weihnachtsbaum sein!»
Sie schmücken den Baum mit zwei farbigen Kugeln.
Josef ist ergriffen vom Glauben und der plötzlich entfachten Begeisterung des Kindes. Wie zufällig faltet er seine Hände. «Beten wir dafür, dass dieser Baum unsere Familien wieder zusammenführt. Nicht sofort, im Frühling, wenn er wieder in voller Blüte auferstanden sein wird.»
«Cool, Nonno. Ostern habe ich ja fast vergessen. Und Nonna wird wie immer die schönsten Osternester darunter verstecken.»
Sie schmücken den Baum mit zwei farbigen Kugeln. Giulia umarmt Nonno zum Abschied und hüpft lachend davon.
Und Josef macht sich beglückt mit vorsichtigen Schritten auf den Heimweg zu Maria. Ihm ist leichter ums Herz, als seien seine Lebensgeister gerade neu geboren worden.