
Das Buch: Corpus Delicti. Ein Prozess – Juli Zeh (Roman. 2009)
Da wir uns diesmal ein futuristisches Buch vorgenommen haben, machen wir uns vorweg Gedanken darüber, was uns im Blick auf die Zukunft besonders beschäftigt. Dazu äussern sich die Buchclub-TeilnehmerInnen Annemarie Voss, Elisabeth Wieser, Marianne Senn, Annina Reusser, Karin Mulder und Heinz Gfeller in einer ersten Runde:
Was drängt sich uns beim Gedanken an die Zukunft auf?

Bereits heute hinterlassen wir überall Spuren, sichtbare in unserer physischen Umwelt, aber auch versteckte in unserer virtuellen Umwelt. Insbesondere im Internet – Big Data. Bereits heute sagt unsere Browser-Chronik mehr über uns aus als ein Bewerbungsdossier. Auch in 40 Jahren existiert diese Information noch irgendwo. Sind wir dann so transparent, gläsern, dass niemand mehr etwas verbergen kann?
Ich mache mir Gedanken über die Roboter, von denen man so viel Erleichterung erwartet. Mich beschäftigt: Wo bleibt der Mensch – und die Menschheit wächst ja rasend schnell!

Die Überreglementierung: Aus Angst vor möglichen Schäden schränkt man die Möglichkeiten der Menschen immer stärker ein (Beispiel Rauchen). Vernünftige Einschränkungen sind nützlich; aber radikale Regeln fördern Widerstand, Auflehnung. Besonders schlimm dabei: eine generelle, automatische Kontrolle.
Zukunft – wesentlich scheint mir, sich nicht von Ängsten leiten zu lassen. Einzig die Klimaveränderung scheint mir unausweichlich; darauf sollten wir uns einstellen.

Zukunft macht mir keine Angst. Wäre ich jung, würde ich mit Zuversicht in die Zukunft schauen. Es wird wesentlich besser werden als die schlimmen Prophezeiungen.

Die grossen Fortschritte in der Technik sind leider nicht auch Fortschritte in der menschlichen Natur. Der Mensch wird sich in meinen Augen eher zurück entwickeln. Die Entwicklungen von Technik und Mensch klaffen immer mehr auseinander. Dazu das Zitat aus «Corpus Delicti»: «Es ändert sich niemals etwas. Ein System ist so gut wie das andere. Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.» (Seite 235)
Damit sind wir beim Roman von Juli Zeh
1984 ist lange vorbei; totalitäre Staaten gibt es, wenn auch nicht gerade in der von George Orwell erfundenen Form. Die «Mitte des 21. Jahrhunderts», die Juli Zeh beschreibt, haben wir noch nicht erreicht; vielleicht wird sich Deutschland dann auch nicht so totalitär präsentieren wie in diesem Roman. In beiden Fällen haben wir es mit einem Modell zu tun – das uns jedoch ernsthaft über Mechanismen einer durchkontrollierten Gesellschaft nachdenken lassen will.
Die Hauptfigur in Juli Zehs Roman, Mia Holl, ist eine rationale, aber gespaltene, labile Person und deshalb interessant. Sie wird unfreiwillig zur Gegnerin des herrschenden Systems, obwohl sie in der Mitte zwischen Extremen steht: ihrem anarchischen, emotionalen Bruder Moritz, der Opfer des Systems wird, einerseits, und dem Justizapparat andrerseits, der zwar unterschiedliche Charaktere umfasst, aber die geltenden Prinzipien – die METHODE – erbarmungslos durchsetzt.
Als eine zweite ambivalente Figur tritt Heinrich Kramer auf, welcher indessen die METHODE überzeugend vertritt: das System, welches den Corpus, den Körper und damit die Gesundheit zum alleinigen Kriterium fürs Leben erklärt und die unvollkommenen Menschen seinen Regeln strikt unterwirft.
Grauenhaftes spielt sich in einem Rahmen ab, der doch unserem vertrauten Alltag ähnelt, wie etwa Mia Holls Nachbarinnen ihn verkörpern. Banale Porträts und philosophische Gedankengänge berühren einander.
Reaktionen auf die Lektüre
Annemarie Voss: Die im Buch heraufbeschworene Zukunft ist beängstigend. So sehr, dass ich mich gar nie voll und ganz auf das Buch eingelassen habe.

Elisabeth Wieser: Eine Zukunft, die wahr werden könnte. Der Gedanke, dass solche Systeme sich aufbauen, langsam aber sicher, ist beklemmend. Nicht auszudenken, dass ein Staat besser weiss, was gut für mich ist, als ich selbst.
Heinz Gfeller: Der Roman, so unrealistisch er in etlichen Punkten erscheinen mag, stellt einen Zustand dar, den wir auf keinen Fall erreichen möchten. Aber er bildet auch Dinge ab, die in heute existierenden Staaten vorkommen. Wie verhindern wir, so weit zu kommen?
Marianne Senn: Der Roman beschreibt einen diktatorischen, repressiven, korrupten Staat, der Unfehlbarkeit beansprucht. Besteht diese bedenkliche Entwicklungsmöglichkeit? Existieren Ansätze? Wesentlich scheint mir, unsere ethischen, kulturellen Errungenschaften, wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Nächstenliebe, und politische Systeme mit Gewaltentrennung, direkter Demokratie, Mehrparteiensystem zu bewahren.
Annina Reusser: «Corpus Delicti» zeichnet das Bild einer totalitären, engmaschigen Gesellschaft, in der sich eine unbescholtene Bürgerin immer tiefer verstrickt. Man könnte es Tragödie oder Apokalypse nennen. Das Buch greift wunde Punkte unserer Gesellschaft auf, die wir auch wahrnehmen. Ich verstehe es als Aufruf, sich bewusst zu werden, dass wir die Zukunft mitgestalten können. Wir sollten uns damit auseinandersetzen, in welcher Zukunft wir leben möchten. Und uns dafür einsetzen.
Bisherige Beiträge zu Buchclubs
Regelmässig besprechen Jung und Alt Bücher. Nach der Lektüre treffen sie sich zum Buchclub.