
Isoliert in einer verlassenen Welt
Als die Sonne an diesem Morgen über dem Horizont aufging, schien sie auf eine Welt, die sich plötzlich verändert hatte. Die Vögel sangen nicht mehr, die Wellen brachen sich stumm an den Ufern, und ein unheimliches Schweigen lag über dem Dschungel von North Sentinel Island, einer Insel im indischen Ozean.
Wir, die Bewohner:innen dieser kleinen Insel, hatten keine Ahnung, was geschehen war. Seit Generationen lebten wir isoliert von der Aussenwelt, ohne Kontakt zu anderen Zivilisationen. Unsere Bräuche, unsere Sprache und unser Leben waren geprägt von der Abgeschiedenheit, die uns vor den Gefahren da draussen schützte. Doch an diesem Tag spürten wir ein unbestimmtes Unbehagen, eine unerklärliche Leere in unseren Herzen.
Es dauerte nicht lange, bis wir realisierten, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Unsere Boote blieben unberührt am Strand, kein Handelsschiff tauchte am Horizont auf, und die Zeichen der Aussenwelt, die wir manchmal am Himmel sahen, waren verschwunden. In unserer Neugier begannen wir, die umliegenden Inseln zu erkunden, in der Hoffnung auf Antworten. Doch überall, wohin wir gingen, fanden wir nur Stille und Verwüstung. Die Städte waren verlassen, die Strassen leer, und die Häuser verwaist. Es schien, als ob die Menschheit über Nacht verschwunden wäre, als ob wir die einzigen Überlebenden einer Katastrophe wären, die wir nicht begreifen konnten.
In den Nächten sassen wir um das Lagerfeuer und starrten in die Flammen, die uns wärmten, aber nicht das Dunkel vertreiben konnten, das in unseren Seelen herrschte. Wir sprachen über die Legenden unserer Vorfahren, über die Götter und Geister, die über uns wachten, aber selbst sie schienen stumm zu sein angesichts des Grauens, das die Welt um uns herum erfasst hatte.

Und so blieben wir, die letzten Menschen auf Erden, allein inmitten einer leeren Welt, die einst voller Leben und Lachen gewesen war. Wir wussten damals nicht, dass eine Pandemie über die Menschheit hereingebrochen war, dass Krankheit und Tod die Städte entvölkert hatten und dass wir, die Primitiven von North Sentinel Island, aus reiner Isolation und Glückseligkeit als einzige übriggeblieben waren.
Vielleicht war es ein Fluch, vielleicht ein Segen. Wir wussten es nicht. Aber während wir in die Dunkelheit blickten und auf ein neues Morgen hofften, wussten wir eines mit Sicherheit: Wir waren die letzten Menschen auf Erden, und wir trugen die Last einer Welt, die für immer verloren war.
Die Tage vergingen langsam, und wir begannen, uns an unsere neue Realität zu gewöhnen. Wir lernten, die Früchte des Dschungels zu ernten, das Feuer zu hüten und die Geheimnisse der Natur zu respektieren. Unsere Gemeinschaft wurde enger, unsere Bande fester, denn wir waren alles, was übriggeblieben war.
In den Nächten hörten wir manchmal seltsame Geräusche im Dschungel, unheimliche Schatten, die sich im Mondlicht bewegten, und wir fragten uns, ob wir wirklich allein waren auf dieser Welt. Doch wir wagten es nicht, unsere Insel zu verlassen, denn wir wussten, dass unsere Isolation uns bisher geschützt hatte vor den Gefahren der Aussenwelt.

Und so lebten wir weiter, in einer Welt, die still geworden war, in der die Erinnerungen an eine vergangene Zeit nur noch wie Schatten in unseren Köpfen existierten. Wir hielten an den alten Bräuchen fest, an den Ritualen und Legenden, die uns mit unseren Vorfahren verbanden, denn sie waren alles, was uns geblieben war von einer Welt, die für immer verloren schien.
Die Jahre vergingen, die Generationen folgten aufeinander, und wir wurden zu Hütern eines Erbes, das niemand mehr empfangen konnte. Wir blickten hinaus auf das Meer, das uns umgab, und fragten uns, ob wir jemals wieder Kontakt zur Aussenwelt haben würden, ob die Menschheit jemals zurückkehren würde aus den Schatten, in die sie gefallen war.
Doch wir wussten, dass es keine Antworten gab auf unsere Fragen, dass wir allein waren auf dieser Insel, die einst ein Teil eines grösseren Ganzen gewesen war. Und so lebten wir weiter, die letzten Menschen auf Erden, im Einklang mit der Natur, im Glauben an die Geister, die über uns wachten, und in der Hoffnung auf ein neues Morgen, das vielleicht niemals kommen würde.
Die Eingebunkerten
Die Fachzeitschrift «Der Archäologe» veröffentlichte in der neuen Ausgabe vom 7. Juli 3077 den nachfolgenden Text. Er wurde bei Tiefengrabungen in Trümmern eines Bunkers aus alter Zeit gefunden.
1. April 2097
Gestern schlug er ein, der lange angekündigte Asteroid, der Stern der grossen Zerstörung. Im Bunker, zehn Meter unter Erde, da fühlte ich mich sicher. Wie es wohl weitergeht? Es hiess, es sei Ende Menschheit. Mal schauen.
Ich mach mir Notizen. Ob sie je einmal jemand lesen wird, weiss ich nicht.
Noch wage ich mich nicht hinaus. Es muss aber noch andere reiche Eingebunkerte in der Gegend geben. Irgendwann müssen wir ja raus aus dem Bunker. Ich bin gespannt, wen ich da antreffen werde.

2. April
Ich war draussen. Sieht nicht gut aus. Alles flachgelegt. Der Himmel schwer behangen mit einer Staubwolke. Niemand draussen. Lange blieb ich auch nicht. Die Luft ist kaum zu atmen. Bin froh um die Klimaanlage. Zum Glück habe ich für Nahrung und Wasser vorgesorgt. Für 30 Tage dürfte es reichen.
3. April
Beim heutigen Luftschnappen (besser gesagt wäre Staubschnappen) traf ich wirklich jemanden, der sich auch herauswagte, Mark, unsern Bankdirektor. Er habe versucht, sich per Internet Lebensmittel zu besorgen. Doch alle Verbindungen waren weggebrochen. ‒ Ich habe angefangen, «Sind wir die Letzten?» zu lesen, einen Zukunftsroman über den Untergang der menschlichen Zivilisation. Passt recht gut in die Situation.
4. April
Langsam kommen die Bewohner:innen der anderen Bunker zum Vorschein. Jonas, der Chirurg vom Kantonsspital und seine Frau Mathilde. Die beiden sind wenigstens nicht allein, doch ihre Gesichter zeigen tiefe Erschöpfung; die ständige Anspannung hat ihre Spuren hinterlassen. Dazu auch noch Thomas, der Chef der Ortspolizei. Wir kommen langsam ins Gespräch.

5. April
Wir haben abgemacht, uns regelmässig um 11 Uhr zu treffen, um die Situation zu besprechen. Die Frage ist, ob wir Verbindung mit anderen Menschen aufbauen können. Jonas sagt, er habe so ein Gerät, das auch funktioniere, wenn alle Leitungen tot sind. Der Polizeichef hat zum Glück ein paar Pakete Masken dabei, so retten wir uns vom dicken Staub. Aber es ist bedenklich kalt. ‒ Übrigens tauchte plötzlich Leo auf, der Typ, der sich einfrieren liess. Er sieht jämmerlich mitgenommen aus. Ohne Strom läuft natürlich seine Eiskammer nicht, so ist er aufgetaut. Langsam wird es lustig bei uns.
6. April
Das Essen wird eintönig. Büchsenzeug am Morgen, am Mittag, am Abend. Der Geschmack von Dosenfleisch und eingemachtem Gemüse bleibt uns unangenehm lange im Mund. Aber besser als verhungern. ‒ Heute eine schöne Überraschung: Die hübsche Lea und ihr Bräutigam Noah, beide aus gutem Haus, tauchten auf. Sie hatten sich bisher nicht herausgewagt. Wir haben sie gleich aufs Korn genommen. Jetzt wäre wenigstens für Nachwuchs gesorgt, witzelten wir. Auch sonst beginnt man sich zu necken. Den Bankdirektor fragten wir, ob seine eingebunkerten Aktien wirklich aus Papier seien, aus Schokolade könnte man sie wenigstens essen.
7. April
Die Stimmung hat gekippt. Mathilde hatte in der Nacht eine Panikattacke. Und auch wir andern wagen nun, unsere Bedenken zu äussern. Wie soll das weitergehen? Ewig halten unsere Vorräte nicht. Sollen wir losziehen auf der Suche nach Menschen? Aber mit welcher Hoffnung? Leo, der Eingefrorene, beginnt kläglich zu jammern.
Ich machte den Vorschlag, wir sollten unsere Vorräte überprüfen und sie gemeinsam verwalten. Alle winden sich, suchen Ausreden, jeder will seinen Besitzstand sichern. Mein Buch «Sind wir die Letzten» wird verdächtig realistisch.

8. April
Die beiden Jungen wollen losziehen. Sie halten es nicht mehr aus. Altklug warnten wir sie, es sei gefährlich, alles sei wohl zerstört. Doch unsere Perspektiven hier sind auch nicht rosig. ‒ Heute schien plötzlich die Sonne ganz fahl durch die Staubdecke. So etwas wie Frühlingsgefühle. Leider ist sie schon wieder weg. Die Stimmung ist erbärmlich.
9. April
Die Jungen sind weg. Wir träumen ihnen nach, als könnten sie den Ausweg finden, den wir uns nicht mehr zu erhoffen wagen. Wenn wenigstens Jonas ein Signal von irgendwo auffinden könnte mit seinem Gerät. Wir sassen lange still zusammen. Dann wagte endlich der Chirurg zu sagen, was alle im Geheimen denken. Wir haben keine Zukunft hier. Die Jungen haben recht. Wir müssen den Aufbruch wagen, was immer uns auch erwartet.
9. April, 11.45
Wir sind uns einig. Morgen nach dem Mittagessen brechen wir in Richtung Süden auf. Mir ist ganz mulmig zumute.
