Text: Celia Kruse (15)
Der Sommer steht vor der Tür und damit auch die Festival-Saison. Doch ein Blick auf die Line-Ups zeigt seit Jahren dasselbe Bild: Musikalisch eine top Auswahl an Acts, aber 80 Prozent davon sind Männer, FINTA-Headliner (Frauen, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen) fehlen oft ganz. Ob Seaside, Heitere Openair oder das Am Schluss Festival in Thun – wo bleibt die Diversität? Die Schweizer Musikszene ist zwar voller talentierter FINTA-Musiker:innen, doch diese stehen oft im Schatten ihrer cis-männlichen Kollegen. Trotz ihrer Erfolge kämpfen sie täglich gegen Diskriminierung und mangelnde Sichtbarkeit. Unterstützung erhalten sie von Organisationen wie Helvetiarockt, FintaView oder Flutwelle. Doch wo liegen die grössten Probleme und wie können wir die Situation verbessern? Darüber wird in den Medien zu wenig berichtet.
Glossar
FINTA:
Ein Akronym für Frauen, intergeschlechtliche, non-binäre, trans und agender Personen. Der Begriff wird verwendet, um all jene zu umfassen, die nicht cis-männlich sind.
Cis (Cisgender):
Ein Begriff zur Beschreibung von Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Zum Beispiel identifiziert sich eine Person, die bei der Geburt als weiblich eingestuft wurde und sich auch als Frau identifiziert, als cisgender. «Cis» stammt aus dem Lateinischen und bedeutet «diesseits», im Gegensatz zu «trans» (jenseits).
Kein neues Phänomen
Als ich neun Jahre alt war, besuchte ich mein erstes Festival. Es war ein schönes Gefühl, so viele Live-Acts zu sehen und mich für diese zwei Tage aus vielen Normen und Regeln der Gesellschaft zu befreien. Das Line-up begeisterte mich, denn einige meiner Lieblings-Acts traten auf: Lo & Leduc, Pegasus, Hecht, Züri West und Rea Garvey. Unter den zwölf Acts, die in diesem Jahr auftraten, waren sie meine absoluten Highlights. Erst später fiel mir auf, dass elf der zwölf Acts cis-männlich waren. Lediglich eine Künstlerin auf dem Festival im Jahr 2017 war eine FINTA-Person.
«Heute erkenne ich die Bedeutung eines solchen Line-Ups: Es zeigt Strukturen und Entscheidungen, die bestimmte Menschen benachteiligen.»
Celia Kruse
Die Zahl der FINTAs auf dem Line-up lässt sich also maximal an einer Hand abzählen. Was mich heute noch mehr schockiert als die Tatsache selbst, ist, wie es mir damals nicht aufgefallen ist, dass dieses Festival ein offensichtlich diskriminierendes Line-up hatte. Heute erkenne ich die Bedeutung eines solchen Line-Ups: Es zeigt Strukturen und Entscheidungen, die bestimmte Menschen benachteiligen. Auch dieses Jahr bleibt die Diversität ein Problem: Von den zwölf Bands auf der Hauptbühne sind nur drei FINTAs dabei. Sieben Jahre später hat sich die Zahl der FINTA-Acts zwar erhöht, bleibt jedoch immer noch gering.
Woran liegt das?
Die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts ist immer noch ein grosses Problem für FINTAs, auch in der Schweizer Musikszene. FINTAs erleben Diskriminierung in verschiedenen Bereichen wie Labels, Radiosendern und Live-Auftritten. Doch warum ist das so? Genderungerechtigkeit in der Musikindustrie hat tiefe strukturelle und systemische Ursachen und hat viel mit Macht und Geld zu tun. Oft sind die Leute, die in der Musikbranche Entscheidungen treffen, Männer, und sie unterstützen meist andere Männer. Diese Ungleichheit in der Machtverteilung kann dazu führen, dass FINTA-Stimmen und -Perspektiven in der Musikszene nicht ausreichend berücksichtigt oder an den Rand gedrängt werden. Ein weiteres Problem ist, dass FINTA-Musiker:innen oft nicht die gleichen Chancen bekommen wie Männer. Zum Beispiel haben sie es schwerer, Plattenverträge zu bekommen, im Radio gespielt zu werden oder finanzielle Unterstützung zu erhalten. Dadurch haben sie auch weniger Sicherheit und trauen sich weniger, Risiken einzugehen.
Es ist nicht einfach für FINTAs, sich in einer von Männern dominierten Branche zu etablieren und gehört zu werden. Zusätzlich zur Herausforderung, sich mental durchzusetzen, muss man auch die begrenzte Zeit berücksichtigen, die FINTAs haben, sich überhaupt einem solchen Berufsweg zu widmen. FINTAs haben oft nicht genug Zeit, um sich in der Musikszene zu etablieren, weil sie in anderen Verpflichtungen eingebunden sind, wie zum Beispiel die Care-Arbeit. Sie verdienen zudem weniger als ihre männlichen Kollegen und werden seltener bei grossen Veranstaltungen und Festivals gebucht. Die Folge: Sie müssen neben der Musik meist noch andere Jobs machen, was ihre kreative Arbeit erschwert. Die patriarchale Sozialisierung von FINTAs unterscheidet sich zudem immer noch immens von der männlichen Sozialisierung, da Männer aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umstände Eigenschaften wie sich vermarkten zu können oder laut und raumeinnehmend zu sein, von klein auf lernen. Das sind Eigenschaften, die in freiberuflichen und selbstständigen Berufen nötig sind, um zu überleben oder sich einen Namen zu machen. Nicht FINTAs selbst sind daran schuld, diese Eigenschaften teilweise erst lernen zu müssen, sondern das Patriarchat.
Talent ist nicht genderspezifisch
FINTAs sind in der Schweizer Musikbranche signifikant unterrepräsentiert. Es gibt jedoch viele talentierte FINTA- Künstler:innen, die einfach weniger sichtbar sind und deshalb schwerer zu finden sind. Das Geschlecht sollte beim Booking keine Rolle spielen, denn weder Frauen noch Männer sind von Natur aus besser oder schlechter. Es gibt talentierte Menschen aller Geschlechter. Oft wird einfach akzeptiert, dass mehr Cis-Männer auf Festivals auftreten, obwohl das nicht fair ist. Repräsentation ist wichtig. Bei Repräsentation geht es darum, die gesamte Bandbreite der menschlichen Identitäten sichtbar zu machen – sei es auf oder hinter der Bühne. FINTA-Repräsentation fordert gesellschaftliche Normen und Stereotypen heraus und widerlegt die weit verbreitete Vorstellung, dass bestimmte Geschlechter für bestimmte musikalische Rollen oder Genres besser geeignet wären. Die Repräsentation bestätigt die Erfahrungen und Identitäten von FINTA-Personen und unterstreicht ihren festen Platz in der Schweizer Musikszene. Zudem bietet sie Inspiration und Motivation für FINTA-Newcomer:innen und zeigt ihnen, dass ihre Träume unabhängig von Geschlechtsidentität erreichbar sind. FINTA-Repräsentation in der Musikszene erfüllt somit mehrere Zwecke, die alle entscheidend für eine inklusivere und vielfältigere Branche sind.
Vorbilder sind wichtig
Repräsentation und Sichtbarkeit spielen eine wichtige Rolle im Kampf von Inklusion und Gerechtigkeit in der Musikbranche, denn dadurch werden Vorbilder erschaffen, die nicht nur inspirieren, sondern auch den Weg für mehr Diversität ebnen. Menschen orientieren sich oft an ihrem Umfeld und an Vorbildern, was durch Sozialisierung und gesellschaftliche Normen beeinflusst wird. Diese Normen können dazu führen, dass Menschen zögern, unbekannte oder untypische Wege zu gehen. Es liegt nicht am mangelnden Willen, sondern daran, dass eigene Rollenbilder nicht ausreichend hinterfragt werden. Um diese Normen und Stereotypen zu überwinden und Menschen zu ermutigen, ihren Leidenschaften zu folgen, braucht es uns alle. Im Bereich der Musik ist die Präsenz verschiedener Stimmen und Perspektiven nicht nur eine Frage des Geschmacks, sondern essenziell für echte Inklusivität, denn Sichtbarkeit schafft Normalität und Normalität schafft Sichtbarkeit.
Es geht auch anders!
Natürlich darf nicht pauschalisiert werden. Der schweizweit aktive Verein Helvetiarockt zeigt zum Beispiel, wie es anders geht. Die Organisation setzt sich für mehr Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Menschen im Jazz, Pop und Rock ein. Mit ihren Angeboten schaffen sie seit 2009 einen niederschwelligen Zugang zur Musik, fördern und vernetzen professionelle Musiker:innen und sensibilisieren die Branche. Sie fordern eine angemessene Sichtbarkeit und Anerkennung von FINTAs in Line-ups und in der ganzen Musikindustrie. Dabei inspirieren sie täglich Menschen, Bestehendes zu hinterfragen und gemeinsam Lösungen zu finden. Helvetiarockt benennt Missstände, zeigt Alternativen auf und findet mit allen Beteiligten konkrete Lösungen. Sie fordern die Vertretung der Vielfalt unserer Gesellschaft in allen Bereichen und stehen für eine lebendige Musikbranche ein. Ein weiteres Beispiel, wie es anders geht, zeigt der FINTAview Podcast. Bei FINTA*view kommen FINTAs aus der Schweizer Kulturbranche zu Wort. Zusammen mit Gäst:innen weisen sie auf Themen hin, wo viel zu wenig hingeschaut wird. Sie wollen FINTA-Künstler:innen aus der Kulturbranche hörbarer, sichtbarer und spürbarer machen. Sie wollen zeigen, dass die Stimmen von FINTAs in der Musikbranche genau so laut singen, ihre Texte genau so raffiniert sein können und ihre Kunst ebenso hochkarätig sein kann. Über solche Themen wird in diesem Podcast gesprochen, mit FINTAs, die auf der Bühne stehen, die ihre Wörter in die Welt hinausschicken und mit ihrer Kunst Wichtiges ausdrücken.
Ebenso setzt sich das Flutwelle Magazin für mehr Selbstverständlichkeit von FINTAs in der Musikbranche ein. Sie schaffen Präsenz für Künstler:innen im Musikjournalismus. Flutwelle will, dass FINTA-Personen ihren Platz in der Musikszene finden und diesen selbstbewusst einnehmen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, insbesondere FINTA-Künstler:innen zu präsentieren, da diese in der Musikszene und im Musikjournalismus immer noch unterrepräsentiert sind.
Was kann man noch tun?
Damit sich diese systemische Ungerechtigkeiten verändern, müssen alle Verantwortung übernehmen. Dazu gehört die Einbeziehung der Minderheit, die Reflexion bestehender Strukturen und die Umsetzung konkreter Massnahmen. Der Glaubenssatz «Wer gut genug ist, bekommt auch seine Chance» muss hinterfragt und abgelegt werden. Das Selbstbewusstsein junger FINTA-Künstler:innen muss gestärkt werden, damit sie an sich glauben. Damit alle die Möglichkeit haben, gehört und gesehen zu werden, muss die fehlende Repräsentation immer wieder sichtbar gemacht werden, denn viele erkennen das Problem erst, wenn sie direkt darauf hingewiesen werden. Als Besucher:in kann ich mir anschauen, wer an den Festivals beteiligt ist. Als gut etablierter und erfolgreicher Act könnte ich beispielsweise zur Bedingung machen, dass ich nur auftrete, wenn Gleichberechtigung stattfindet. Künstler:innen oder Managements können ihre Plattform bewusst nutzen, um FINTA-Acts zu fördern. Booker:innen haben die Möglichkeit, gezielt auf die Auswahl der Künstler:innen zu achten. Fördermittelgeber:innen können Fördergelder an Bedingungen knüpfen oder gewichten. Es gibt also zahlreiche Hebel, die betätigt werden können, um aktiv zu werden und sich für Veränderungen einzusetzen – individuell, kulturell und auch auf staatlicher Ebene.
Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr auf so ein Line-up wie im Jahr 2017 blicken muss. Bis dahin bleibe ich laut, bis diese Botschaft bei den Verantwortlichen der grossen Festivals ankommt und bis aufgehört wird, nur darüber zu reden und angefangen wird, auch wirklich Dinge und Strukturen aktiv zu verändern.