Oh nein, nicht schon wieder! Einmal mehr hadere ich mit meinem Schicksal. Aber vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen: Ich bin ein Schlüssel; und wie es aussieht, ein ziemlich durchschnittlicher Schlüssel. Aber ich öffne zuverlässig Türen – und ich verschliesse sie auch wieder. Vorausgesetzt, ich werde in mein Pendant, den Zylinder, gesteckt und umgedreht. Ich bin ziemlich modern. Ich kann eine Haustür öffnen, zu der viele Schlüssel Zugang haben, bin aber auch fähig, eine Tür zu einer Wohnung und zu einem Briefkasten, zu denen nur ich passe, zu öffnen. Alle anderen Schlüssel zu diesem Haus haben den Dreh zu meinen Schlössern nicht raus. Ich aber auch nicht zu ihren. Nur in das Schloss der Eingangstür passen wir alle. Obwohl in meiner Wohnung zwei Menschen wohnen, eine Frau und ein Junge, rede ich am besten von dem Besitzer, denn ich hänge meistens am Hals des Jungen. Jedenfalls immer, wenn er die Wohnung alleine verlässt. Und am Hals des Jungen zu hängen finde ich irgendwie entwürdigend.
«Nun geht’s schon wieder los, du musst rennen», sage ich zu meinem Besitzer. Der Junge heisst Dieter, aber die anderen Kinder nennen ihn immer nur Didi. «Lauf schneller, Didi, sonst werden wir wieder in den Dreck geschubst.
Ich hasse unser Haustürschloss, zu dem so viele passen.
Meistens bindet mich Didi nur lose um seinen Hals und da kann es passieren, dass ich auf dem Boden lande. Dabei werde ich nass und schmutzig. Durch Dreck kann sogar meine Funktionsfähigkeit eingeschränkt werden. Ich kann das an manchen Tagen einfach nicht ertragen. Es gibt so schöne Schlüsselbunde mit einem Glücksbringer dran, wo ich in Gesellschaft eines Auto- oder eines Veloschlüssels hängen könnte. Aber leider sind das nur meine geheimen Fantasien. Ich hasse unser Haustürschloss, zu dem so viele passen. Das ist unhygienisch, schliesslich weiss niemand, wo die anderen Schlüssel überall liegen gelassen werden. Aber so viel Exklusivität steht mir nicht zu. Wenigstens ein eigenes Etui aus Leder wäre schon nett, da wäre ich geschützt vor Kälte und Schmutz.
Da haben wir den Dreck. Schon liegen wir wieder in einer Pfütze, und so ein Unflat sitzt oben drauf.
Er schmeisst mich in einen Abfalleimer. Das ist das Ende. Mein Bart versinkt in Dunkelheit – und es stinkt!
Ich schäme mich für Didi, weil er sich nie wehrt. Immer heult er gleich los. Ich kann verstehen, dass er nicht mit zerrissenen Kleidern nach Hause will. Seine Mutter schimpft sonst schon immer mit ihm, und sie können sich ohnehin nicht viel leisten, das Geld ist knapp. Auf einmal packt mich dieser Grobian mit seiner schmierigen Hand und trägt mich weg. Das Gejammer von Didi wird leiser. Hilfe, Hilfe! Nein, nicht da rein! Er schmeisst mich in einen Abfalleimer. Das ist das Ende. Mein Bart versinkt in Dunkelheit – und es stinkt!
Es ist ziemlich dunkel und muffig. Von Didi höre ich nichts mehr, es ist so still geworden. Wieso holt er mich nicht zurück? Ich verstehe das nicht. Plötzlich fängt die ganze Umgebung an, sich zu bewegen. Was passiert da nur? Warum bewegt sich alles? Ich höre zwei Männerstimmen. «Pack auf der anderen Seite», ertönt es. Auf einmal drehe ich mich wild, was ist da nur los? Ich werde hin und her geschleudert. Schliesslich bemerke ich, was passiert: Die Müllabfuhr hat den Eimer geleert! «Kannst losfahren!»
Ich komme bei einer Mülldeponie an. Weit, weit weg von meinem Zuhause. Was soll ich nur machen? Ich bin verloren. Didi wird mich nie finden, ich könnte weinen!
Mich spricht jemand von der Seite an. «Hallo, hallo! Was machst denn du hier? Hast du dich etwa verlaufen?» «Schön wär‘s», sage ich. Mir gegenüber liegt ein alter Korkenzieher, schon ziemlich verrostet und brüchig. «Wie bist du denn hier gelandet?», fragt der Korkenzieher. «Ich hing an meinem Besitzer, aber es gab eine Rauferei. Dann fiel ich zu Boden und wurde in einen Mülleimer gesteckt», erzähle ich dem Korkenzieher. «Wie gemein!», meint er nur. «Das kannst du laut sagen, Korkenzieher.»
Du bist noch brauchbar, du musst wieder zurück!
Wir liegen am Rand eines Müllbergs und schauen auf die unzähligen Hügel aus Abfall, die in der Deponie entstanden sind. All die Sachen, die hier gelandet sind. Viele Alltagsgegenstände, die nicht mehr gebraucht werden. Ich fühle mich schrecklich. Werde ich den Rest meines Lebens hier sein? «Nein», sagt der Korkenzieher, «Ich bin schon relativ alt und möchte meinen Lebensabend geniessen, du bist noch brauchbar, du musst wieder zurück!» Ja, wenn es doch so einfach wäre. «Natürlich ist es das! Ich habe da eine Idee! Siehst du den Abfluss dort drüben? Wenn du die gleiche Richtung zurückgehen würdest, so kämst du in die Nähe deines Zuhauses!» Der Korkenzieher scheint von seiner Idee begeistert zu sein. «Komm mit!», sagt er zu mir.
Er zeigt auf ein kleines Spielzeugboot. «Setz dich rein, ich schubs dich dann!» – «Und du denkst, das funktioniert?», entgegne ich ihm. «Ja, aber sei auf der Hut vor der Kanalisation! Nicht, dass du noch in den Untergrund stürzt!» Er nickt ganz überzeugt und nimmt Anlauf.
Ich segle dem Bordstein entlang. Es regnet immer noch sehr stark, dieses Mal bin ich aber froh darüber, so habe ich genug Schwung, um nach Hause zu gelangen. Bei jeder Kanalisation, der ich mich nähere, verlagere ich mein Gewicht auf die andere Seite und mache so einen Bogen herum. Etwa zwei Kilometer segle ich schon, ich spüre es, ich bin gleich daheim! Ich freue mich so! Ich springe aus dem Spielzeugboot heraus und klettere auf das Trottoir. In der Nähe sehe ich ein Gummiband. Hm, wie wäre es mit Fliegen? Das wollte ich schon immer mal machen! Ich spanne das Band an zwei Steinchen und lasse los. Ich fliege! Autsch, voll an die Haustür geschlagen! Ich falle zu Boden.
Er kann ohne mich nicht hineingehen.
Vor der Haustüre sitzt Didi zusammengekauert und vergiesst Tränen. Er kann ohne mich nicht hineingehen. Ich sehe sein Leiden. Wie kann ich mich erkennbar machen? Ich hab’s! Ich drehe mich hin und her, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Und tatsächlich! Er schaut zu mir hinunter! Seine Augen glänzen, er kann es nicht glauben. Er hebt mich auf. «Oh, wie ich dich vermisst habe!», sagt er. Ach, schön, bin ich wieder da. «Ich habe dich auch vermisst», sage ich zu Didi. Jetzt schätze ich es mehr, hier zu sein.