
Unsere Autorin begleitet die ehemalige Kunstklasse-Schülerin Jorina Scheidegger und ihre Lehrerin nach Bern. Franziska Fahrni hat wohl die Begabung ihrer Schülerin erkannt und sie eingeladen, mit ihr zusammen an einem Weiterbildungskurs teilzunehmen. Im Zug zeigen mir die beiden Frauen Fotos eines Werks ihres Lehrers Thomas Demarmels. Ich sehe drei bunte Trinkgläser, die auf einem Glastablett stehen und sich darin spiegeln. Dann nochmals dasselbe. Oder nicht? Täuscht mich mein Auge so sehr? Das ist doch zweimal dasselbe Foto? Nein, eines davon ist das gemalte Kunstwerk!
«Ich ertappe mich nur wieder mit meiner innerlichen Frage: Was ist jetzt Foto und was ist Bild?»
Margrit Roth Stadler
Demarmels gehört zur Gruppe der Fotorealisten. Er arbeitete Zeit seines Lebens mit Stiften und Pinseln. Nach der Ausbildung zum Grafiker betätigte er sich als wissenschaftlicher Zeichner. – Später wirkte er als Lehrer an der Schule für Gestaltung in Bern und Biel. Daneben arbeitete er als freischaffender Künstler und darf wohl als Meister seines Fachs bezeichnet werden. Seit seiner Pensionierung unterrichtet Thomas Demarmels jeden Samstag von 8-11 Uhr – nota bene gratis – in einem Raum der Kirchgemeinde Bern Bethlehem. Er weiss nicht genau, wieviele TeilnehmerInnen heute eintreffen.werden. Einige sind ehemalige Kunstgewerbeschüler, andere sind erst seit ihrer Pensionierung dabei. Jorina ist seine jüngste Schülerin und kam auf Empfehlung von Franziska Fahrni in die Gruppe.
Nach und nach tröpfeln sie ein – jung und alt – ein bunt gemischtes Völklein!
So verschieden ihre Persönlichkeiten sind, so verschieden sind auch ihre Gepäckstücke: Staffelei – Zeichenmappen im Format XL bis XS – kleiner Lederkoffer – Rucksack oder Plastic-Taschen. Es werden Oel- und Wasserfarben, Stifte und Pinsel aller Art ausgepackt und auf den Tischen ausgelegt. Nach der herzlichen Begrüssung schaut man gegenseitig die mitgebrachten Arbeiten an und lässt sich voneinander inspirieren.

Einige installieren sich ausserhalb des Raums im Gang. Es wird still und alle halten Einkehr bei sich selbst. Sie wollen den Alltag hinter sich lassen und sich eine kostbare kleine Auszeit nehmen. Alle tauchen ein in ihre innere Welt und konzentrieren sich auf ihr Werk. Von allen SchülerInnen ist eine grosse Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer zu spüren, der sie einfühlsam auf ihrem individuellen künstlerischen Weg begleitet.
Alle haben ein Foto neben sich auf dem Arbeitstisch. Die Grössen variieren von ganz klein bis stark vergrössert. Franziska hat eine kleine Hahnenfeder vor sich.

Die Augen wandern konzentriert vom Foto aufs Bild und zur Farbpalette.
Ich erfahre von ihr, welch grosser Herausfordung sie sich heute stellt. Ihr kleinformatiges Bild hat sie bereits einmal übermalt, weil sie unzufrieden war mit dem Resultat. Heute kümmert sie sich intensiv um die Perspektive der mitgebrachten Hahnenfeder – die Krümmung des Federkiels. Sie visiert mit zwei Bleistiften Distanzen und bringt sie auf die Leinwand. Sie setzt sich auseinander mit dem Spannungsfeld von leerer Fläche und was gemalt werden soll. So konzentriert zu sein sei eine grosse Herausforderung für sie. Das schnelle Skizzieren falle ihr leichter.
Später bestaunt die Gruppe das vollendete Werk einer Teilnehmerin: Mandarinen auf einem Tisch. Mandarine geschlossen – Mandarine geöffnet – Mandarinenschnitze, die man zu gerne sofort stibitzen möchte. Auch hier: Mein Auge glaubt sich zu täuschen und ein Foto zu sehen, denn alles ist detailgetreu und realistisch gemalt. Während mehreren Wochen hat die Künstlerin an ihrem Werk gearbeitet, bis es nun in dieser Perfektion und zu ihrer Zufriedenheit vor ihr liegt.

Sie nimmt ein neues Werk in Angriff. Von einem stark vergrösserten Foto der Londoner City wird sie wieder ein Gemälde erarbeiten. Die Rückseite des Fotos färbt sie mit schwarzer Pastellkreide ein und überträgt dann mit Strichen das Original auf ihre Leinwand. Lachend meint sie, ich könne dann in ein, zwei Jahren ihr Bild anschauen kommen!!

Nun schaue ich der ältesten Schülerin über die Schulter, einer 84-jährigen Frau, die mit ihrem 25-jährigen Enkel seit mehreren Jahren zur Gruppe gehört. Sie habe immer gerne gezeichnet und wolle noch so lange hier vorbeikommen, wie es ihre Gesundheit zulasse.
Sie hat ein Foto einer Blume mitgebracht, eine Erinnerung an eine Englandreise. Sie will kleine Karten daraus herstellen – ihre persönliche Art von Trauerkarten, wie sie sagt. Ihr Enkel sitzt vor einem grossen Werk: er wird nach einem Foto seines Göttis aus Afrika ein Flusspferd in einem Fluss erschaffen.
Dann ein Bild mit einer Szene aus einem Bad an einem See. Die Schülerin fragt beim Lehrer um Rat, denn sie ist mit der Farbe des Wassers nicht zufrieden. Es ist eindrücklich, wie Thomas Demarmels die Frau mit wenigen Worten ermutigt, mit einem Stift ein Glitzern aufs Wasser zu zaubern. Weder Belehrungen noch Korrekturen, sondern bloss Hinweise, man könnte vielleicht noch dies oder jenes versuchen. Wie motivierend doch solche Anregungen sein können, um die Schüler weiter zu bringen in ihrer Arbeit.

Ein anderer Schüler zeigt mir, wie er
die Hinweise seines Lehrers umsetzt. Mit wenig Farbstrichen entstehen sofort
weichere Konturen am Gesicht und den Extremitäten des Mädchens, indem er den
Bleistiftrand wegradiert.
Im breiten Gang vor dem Gruppenraum arbeiten zwei Frauen ganz konzentriert vor
ihrer Staffelei. Ich wage nicht, sie in ihrem Fluss zu stören und mit ihnen zu
sprechen. Ich ertappe mich nur wieder mit meiner innerlichen Frage: Was ist
jetzt Foto und was ist Bild?

Und dann lande ich bei Jorina, die mich zum Glück wieder in die reale Welt zurückholt mit ihrem Bild! Die junge Frau hat sich an eine Auftragsarbeit gewagt, nämlich ein Familienbild in Form einer Skizze in Tusche zu erschaffen. Es ist ihr gelungen die Gestalten wie auf einem Foto zum Leben zu erwecken. Aus ihrem Skizzenbuch gucken mich ein Elternpaar, Grosseltern, Tanten und Onkel samt Kind und ein Cervelat an. Proportionen und Gesten stimmen! Man glaubt, die Figuren könnten aus dem Bild weglaufen!

Das Familienbild von Jorina könnte auch zur Gruppe hier passen:
Wie an einem Familientreffen finden sich die Mitglieder jeweils am Samstagmorgen ein. Sie unterhalten sich über Bilder, Farben und Techniken und sie lassen sich voneinander inspirieren. In tiefer Konzentration sind sie mit ihren Arbeiten beschäftigt und während der obligaten Kaffeepause tauschen sie sich über private Dinge aus. Ein wohltuendes Klima, frei von Konkurrenz, ist zu spüren.