
Mia hasste das Zugfahren; es machte ihr Angst, unter vielen fremden Leuten zu sein. Angst hatte sie in ihrem zehnjährigen Leben schon oft gehabt. Als sie ihren Teddy Antiphobius verloren hatte; als Mama nach dem Streit mit Papa lange nicht mehr nach Hause kam; als Papa ihr gesagt hatte, dass er und Mama nicht mehr zusammen seien; als sie abends allein sein musste, weil Mama Nachtschicht im Spital hatte. Und jetzt, weil sie zum ersten Mal alleine mit dem Zug fahren musste.
Heute hatte sie ihre erste Geigenstunde gehabt. Ihr Lehrer, Herr Hohenstein, war alt, ruhig und sehr geduldig. Sie spürte noch jetzt das Griffbrett unter ihrer linken Hand und ihre rechte Hand war noch immer müde vom Bogen Halten. Sie hatte heute erst einen sehr kratzigen Ton auf der leeren Saite hervorgebracht. «Aller Anfang ist schwer, Mia», hatte Herr Hohenstein aufmunternd gebrummelt, «besonders bei der Geige». Zum Glück kam nun die zweitletzte Station, hier stiegen alle Leute aus. Ausser Mia, denn sie musste zur Endstation. Endlich etwas Ruhe! Müde lehnte sich Mia in ihrem Sitz zurück und blickte nach oben. Ihr Blick schweifte über die Gepäckablage über ihr, dann hinüber zur Gepäckablage auf der anderen Seite. Da entdeckte sie ihn: einen wunderschönen blau lackierten Geigenkasten aus Holz. Sie blickte sich um, doch es war niemand mehr in ihrem Zugabteil. Sie hatte noch zehn Minuten Zeit bis zu ihrer Haltestelle. Neugierig ging sie zur Gepäckablage. Sie stellte sich auf einen Sitz, damit sie den Geigenkasten erreichen konnte, und nahm ihn herunter. Verstohlen öffnete sie den Kasten und erblickte die prächtigste Geige, die sie je gesehen hatte. Sie war rotbraun wie ein Fuchs. Das Holz war frisch lackiert. Sie musste sehr viel Geld wert sein! Hatte sie jemand hier vergessen?
Ein wertvoller Fund
Als Mia den Geigenkasten wieder zuklappen wollte, fiel ihr auf, dass ein Zettel aus dem Kasten gefallen war. Sie hob ihn auf, faltete ihn auseinander und begann zu lesen:
«Liebe Finderin oder lieber Finder
Ich bin zwar eine bekannte Geigerin, die in der ganzen Welt herumreist, aber manchmal habe ich so viel Musik im Kopf, dass ich meine Umwelt vergesse – möglicherweise einmal sogar meine über alles geliebte Geige – Gott behüte!
Ich bitte Sie inständig, mir sofort eine SMS zu senden oder mich anzurufen, damit ich erfahren kann, dass mein Instrument wohlauf und in guten Händen ist. Ich zahle Ihnen einen grosszügigen Finderlohn und spiele Ihnen gerne privat etwas vor.
Ihre Vera Gobariskova.»

Mia zitterte ein wenig, als sie mit der Hand über diese unendlich wertvolle Geige strich, sie war aber glücklich über ihren Fund. Mutig entschied sie, zu Hause erst einmal zu versuchen, auf diesem wunderbaren Instrument ein Liedchen zu zupfen, bevor sie die Besitzerin anrufen würde. Als sie den Zettel in den Kasten zurücklegte, entdeckte sie – im Rand eingebettet – ein goldfarbenes Ei. Beim Herausheben erklang fein eine schöne Melodie. Dieses kleine Wunder faszinierte sie noch mehr als die Geige. Sie musste nun aber schnell zusammenpacken, denn der Zug bremste ab. Als sie aus dem Bahnhof auf die finstere Strasse in den Regen hinaustrat, befürchtete sie plötzlich, dass ihr jemand die Geige stehlen könnte. Mia klemmte beide Geigenkasten unter die Arme und rannte los. Vor ihrem Zuhause stürzte sie im Dunkeln über den Spielzeugtraktor ihres kleinen Bruders und landete platsch auf dem nassen Boden. Die Geigenkasten schlitterten noch etwas weiter.
Schwierige Suche
Erschrocken griff Mia nach ihnen und ging direkt in ihr Zimmer. Dort prüfte sie, ob alles in Ordnung war. Das goldene Ei wiegte sie gedankenverloren in ihrer Hand. Aus der Küche drang Lärm; ihre chaotische Mutter und ihr kleiner Bruder Benjamin waren in der Küche und kochten gemeinsam Spaghetti al Pomodoro. Auf einmal wurde Mia nervös und dachte gar nicht mehr daran, dass sie die Geige hatte ausprobieren wollen. Sie musste diese Frau Gobariskova sofort kontaktieren. Bestimmt vermisste sie ihr wunderschönes Instrument. Doch es war ja gar keine Handynummer auf dem Zettel angegeben! Was nun? In solchen Momenten konnte sie auf ihren Papa zählen, der hatte immer eine Lösung. Sie rief ihn an. Er war immer noch im Büro, obwohl es schon halb sieben war. «Ach Mia-Maus! Das ist ja eine abenteuerliche Geschichte!», meinte er belustigt. «Ich habe eine Idee: Ich schaue mal, ob ich online eine Angabe finde. Vielleicht hat diese Geigerin ja einen Manager oder so, den du kontaktieren kannst.»
«Im Innern des Eis entdeckte sie einen klein zusammengefalteten Zettel.»
Zehn Minuten später bekam Mia eine SMS von ihrem Vater mit einer Nummer der Managerin, Francine Lavache. Sie war eine streng klingende Frau mit seltsamem französischem Akzent. Nachdem Mia nach Vera Gobariskova gefragt hatte, blieb es am anderen Ende der Leitung lange still. «Isch muss Ihnen leider mit’teilen, dass Madame Gobaris’kova nischt mehr unter uns weilt. Sie ist letzte Nacht von uns geg’angen. Désolée!» Sie gab Mia die Schweizer Adresse der Nichte, Anna Gobariskova, und verabschiedete sich kurz angebunden. Mia war ratlos.
«Iss doch etwas, Mia! Bist du krank?», fragte ihre Mutter beim Abendessen besorgt. Erst vor dem Zubettgehen erzählte Mia ihrer Mutter von der Geige und ihrer verstorbenen Besitzerin. «Komm, wir besuchen morgen diese Nichte. Die wertvolle Geige müssen wir unbedingt zurückbringen. Es ist ja Samstag und ich habe frei!», meinte ihre Mutter aufmunternd.
Das Geschenk
Anna Gobariskova, eine grosse massige Frau, war gerührt über den Besuch von Mia und ihrer Mutter. «Das ist so grossherzig von dir, meine Kleine! Ich kann dir gar nicht genug danken für deinen Einsatz!», flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. Dann fasste sie sich wieder und meinte: «Hör mal, Mia: Vera hat kein Testament hinterlassen. Sie ist sehr unerwartet gestorben, vermutlich durch Herzstillstand. Weisst du, sie war so einsam… Wir haben niemanden in der Familie, der Geige spielt. Und ich bin die nächste Verwandte. Deshalb…» – an dieser Stelle machte Mias Herz einen kleinen Hüpfer – «möchte ich, dass du die Geige behältst. Bei dir ist sie gut aufgehoben, das spüre ich hier.» Anna legte ihre Hand aufs Herz. Mia wusste nicht, wie sie sich bedanken sollte. Sie versprach, Anna bald besuchen zu kommen und ihr auf der Geige vorzuspielen. Eine letzte Frage hatte sie aber noch: «Anna, was ist mit dem goldenen Ei, das im Geigenkasten war?». Anna runzelte die Stirn. Sie wusste nichts von einem goldenen Ei und meinte nur, Mia könne es behalten.

Geheime Liebe
Zuhause legte sich Mia aufs Bett. Sie konnte kaum glauben, dass sie soeben Besitzerin eines so wertvollen Instruments und von einem mysteriösen goldenen Ei geworden war. Es kam ihr vor wie ein Traum. Gedankenverloren nahm sie das Ei hervor und drehte es in ihren Händen. Die liebliche Melodie gefiel ihr und beruhigte sie. Da entdeckte sie ein winziges goldenes Knöpfchen. Sie sah auch, dass das Ei durch einen sehr dünnen Spalt halbiert war. Konnte man es öffnen? Sie bog eine Büroklammer auseinander und drückte mit dem spitzen Ende auf das Knöpfchen, woraufhin das Ei aufschwang. Mias Herz klopfte. Im Innern des Eis entdeckte sie einen klein zusammengefalteten Zettel, der mit dem 19. November 1988 datiert war. Begierig begann sie zu lesen:
Liebste Vera
Vom ersten Tage an, da ich dich sah, liebte ich dich – innig und leidenschaftlich. Ich denke jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde an dich. Es zerreisst mir das Herz, dass wir uns nicht wiedersehen können. Wir sind in der falschen Zeit, am falschen Ort, in den falschen Familien geboren worden. Doch unsere Liebe ist richtig, das weiss ich. Ich bete dafür, dass wir irgendwann in einem nächsten Leben zusammen sein können – ohne für unsere Frauenliebe verurteilt zu werden. Niemals werde ich dich vergessen.
In tiefer Liebe, Maria
Mia waren beim Lesen Tränen in die Augen getreten. Sie hatte verstanden: Vera und Maria waren ein Liebespaar gewesen, und ihre Liebe schien nicht toleriert worden zu sein. War Vera deshalb so einsam gewesen? In den nächsten Wochen übte Mia besonders fleissig Geige, sie machte rasch Fortschritte. Herr Hohenstein war entzückt. Beim Spielen dachte Mia an Vera und Maria und malte sich aus, dass sich die beiden Frauen in einem nächsten Leben wiederfinden würden.