Dritter Teil: knochenharte Liebe
Auf dem Rückweg sagte Paolo, ich sei verpflichtet, die Fotos der Polizei zu bringen. Ob ich etwas vom Sohn der Walliserin und des Chirurgen erwähnen sollte, wusste er auch nicht. Also lieferte ich nur die Fotos ab. Als der Beamte spöttisch sagte, es gebe wohl keine Gespenster, rutschte mir heraus: «Aber es gibt einen eifersüchtigen Herrn Mattu.» Der Polizist antwortete: «Mattu ist nur ein Übername und gibt es hier viele davon. Mischen sie sich nicht in unsere laufenden Ermittlungen ein.» Ich entgegnete: «Manchmal sind doch sogenannte ‚sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung‘ gefragt.» Er: «Welchen Mattu meinen sie denn konkret?» Ich: «Den Chirurgen aus Brig.» Er schüttelte nur den Kopf und entliess mich. Ich dachte mir, dass es offenbar auch Kriminalbeamten schwer fiel, Hilfe anzunehmen, und ging. Zu Hause rief ich den Sohn an und fragte ihn, ob er in den letzten Wochen etwas vom Vater gehört habe. Er verneinte. Nun wurde es schwierig für mich. Ich suchte im Internet nach einer Schweizer Hilfsorganisation, die in Äthiopien ein Spital betrieb oder unterstütze. Es gab sogar zwei. Wie sollte ich es anstellen, dass sie mir Auskunft gaben? Ich mailte beiden, mein Kollege Mattu sei in besagtem Spital tätig, fragte, ob sie mir seine genaue Adresse geben könnten und unterschrieb mit Dr. Gerber. Beide kannten keinen Arzt dieses Namens. Also war doch etwas faul an seiner Ausreise.
Wie weiter? Falls der Sohn noch Kleider von seiner Mutter aufbewahrte, waren da vielleicht Haare daran. Was, wenn sie denselben genetischen Code hatten wie die Knochen?
Ich arbeitete in den letzten Tagen unkonzentriert und schlief sehr schlecht. Darum überlegte ich: «Wäre es besser, die Geschichte nur aufzuschreiben und anschliessen rituell zu verbrennen, um sie vergessen zu können?» – «Das wäre feige!», sagte eine trotzige Stimme in mir. Also telefonierte ich nochmals dem Sohn Mattu und fragte ihn, ob er noch eine Kappe oder Kleider von seiner Mutter besitze. «Nur einen Wollschal und einen Teddybären», antwortete er. Diese nehme er manchmal mit ins Bett. Ich konnte das gut nachempfinden, sagte aber: «Wenn Sie Haare daran finden, die von Ihrer Mutter sein könnten, müssen Sie entscheiden, ob Sie diese behalten oder der Polizei des Kantons Wallis senden wollen. Wenn Sie sie senden, kommt eventuell Licht ins Dunkle.»
Eine Woche später verhörte mich ein Kommissar auf die harte Tour. Zum Beispiel wollte er wissen, wie ich beweisen könne, Frau Mattu nicht gekannt zu haben. Wie sollte ich das beweisen? Das Verhör bewog mich aber dann, nichts mehr zu unternehmen und die Geschichte nur für mich aufzuschreiben.

Ich hörte drei Monate nichts mehr. Dann erhielt ich einen Brief vom Sohn Mattu.
Er schrieb, es sei schrecklich, was sein Vater getan habe. Er habe die Mutter aus Rache getötet. Weil er sie andererseits ganz für sich behalten wollte, habe er die Knochen aus dem Körper operiert und zum Trocknen an einem geheimen Ort in der Natur deponiert und dann zusammengesetzt, so wie ich sie wohl gefunden habe. Das hätte der Vater in seinem Haus nicht tun können, weil er eine Hausdurchsuchung erwartet hatte. Ein Tier habe allerdings einen Fuss weggeschleppt. Er, der Sohne, habe sich vorgenommen, nie so eifersüchtig zu werden. Seine Mutter stelle er sich jetzt als Schmetterling vor, wie sie im Himmel von einer Wolke zur andern fliege und ihn begleite. «Butterfly!», schoss mir durch den Kopf. Ich benötigte dringend ein Gespräch mit Paolo und lud ihn zum Essen ein. Ein Essen ohne Pilze und Fleisch notabene!