Erster Teil: Totentrompete
Beim Pilzesuchen fand ich unter einer Felswand ein menschliches Skelett, das irgendwie zusammenhielt. Nur ein Fuss fehlte. War das Fehlende von einem Geier gefressen worden?
Oder war das Skelett aus einem Gruselkabinett gestohlen worden?
Was war überhaupt passiert? Handelte es sich um die Überreste eines verunfallten Bergsteigers? Kaum, denn es fehlten jegliche Kleider. Es sei denn, dass zufälligerweise ein Nacktwanderer hier durchgespurtet wäre. Der Schädel war nirgends eingeschlagen. Es lag also kein Steinschlagopfer vor mir. Die Knochen waren nicht verwittert, sondern glänzten fast. War er oder sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Hatte man die Leiche hier deponiert und von wilden Tieren fressen lassen? Hätten Tiere und Bakterien zusammen so saubere Arbeit geleistet?
Fragen über Fragen. Ich knipste ein Bild und ging dann auf die Polizeiwache im Tal. Dort fragte ich, ob in den letzten Wochen oder Monaten jemand als vermisst gemeldet und bisher nicht gefunden worden sei. Der Beamte sagte ausweichend, das komme immer wieder vor und fragte mich, ob ich Journalist sei. Ich verneinte und fragte konkreter, ob im Mattertal ein Bergsteiger oder Wanderer verschwunden sei. Davon wisse er nichts. Warum ich überhaupt solche Fragen stelle. Als ich ihm auf dem Handy die Foto vom Skelett zeigte und berichtete, dass ich statt Totentrompeten diese schön arrangierte Knochensammlung gefunden habe, kriegte er rote Ohren und verlangte von mir einen Ausweis. Ich hatte nur das GA dabei. Er telefonierte – wohl mit seinem Vorgesetzten – und sagte, es gebe da eine eher unglaubwürdige Geschichte. Was er tun solle. Nach einigem Hin und Her befahl er mir, hier zu warten bis der Kommissar komme und ging weg. Typisch, dachte ich, die Sache ist ihm zu heiss. Ich beschloss, mich nicht ausfragen zu lassen. Als der Kommissar kam, wollte er mich ausquetschen. Ich blieb stur und sagte: «Kommen Sie mit, wenn Sie sich nicht vor Knochenmännern und -frauen fürchten.» Er schüttelte zwar den Kopf, organisierte aber Verstärkung und wir fuhren in die Nähe des Fundortes. Nachdem wir zehn Minuten durch Gebüsch gekrochen waren, fanden wir das Skelett. Ich erschrak: der Schädel fehlte. Dafür lag ein Stück Leder an seiner Stelle, auf welchem in roten Lettern stand: «Butterfly». Ich scherzte unbedacht: «Aha, eine fliegende Butter hat den Schädel weggetragen.» Der Kommissar warnte mich: «Wenn Sie uns einen Bären aufbinden, kommt Sie das teuer zu stehen!» Ich wollte antworten, dass ich keine Bären zur Verfügung hätte, besann mich aber und beteuerte, dass ich nichts als die Wahrheit sage. Der verschwundene Kopf sagte mir allerdings, dass der Fall noch in einem akuten Stadium sein musste. Als ich auf den Mangel hinwies, brummte der Chef nur und befahl zu fotografieren und Spuren zu suchen. Mich wollten sie nicht mit auf dem Bild haben, obschon ich doch der ehrliche Finder war. Plötzlich rumpelte es von der Felswand her und ein grosser Wurzelstock pralle nur knapp neben dem Skelett auf den Boden. Ein Polizist hatte im letzten Moment ausweichen können. Alle schauten nach oben. Niemand war zu sehen.
Jetzt eilte es den Beamten plötzlich: Sie zogen Gummihandschuhe an, sammelten die Knochen ein und warfen sie in einen Plastiksack. Ich fotografierte unterdessen die Felswand und zoomte auf einen dunklen Fleck. Stand da nicht eine schwarze Gestalt, die hinunter blickte? Hatte sie die Wurzel geworfen? Oder war es ein Berggeist? Nichts ist unmöglich. Ich werde das Foto zu Hause vergrössern. Wir gingen sehr eilig zurück zum Wagen. Auf dem Polizeiposten wurde ich mit Verdacht entlassen. Die Pilze, die ich gesammelt hatte, warf ich in den nächsten Abfalleimer. Vielleicht hatte ja der Geist meine Steinpilze in Hexenröhrlinge verwandelt! Darauf hatte ich keine Lust, denn ich wollte nicht in Bälde als Skelett im Wald herumliegen. Sie etwa?
Was hätten Sie an meiner Stelle gedacht und getan?