Im Sommer vor ein paar Jahren hatte Vater aufgehört, als Pfarrer zu arbeiten. «Vierzig Jahre für eine ganze Gemeinde da sein, sind genug», sagte er müde. Dann fragte ihn Mutter eines Tages: «Und wann warst du eigentlich für mich da? Kannst du mir sagen, wo ich war und was ich immer tat?» Vater und Töchter blickten sie erstaunt an, aber niemand konnte sich eine befriedigende Antwort ausdenken. Mutter war eben Mutter, was und wer war sie denn sonst?
Von da an war alles irgendwie anders und niemand war mehr richtig zufrieden. Etwas störte die Harmonie und die jüngste Tochter, Laura, gerade siebzehn, hielt es nicht mehr aus. Eines Tages verschwand sie einfach und hinterliess einen Brief: «Sorgt euch nicht, mir geht es gut und ich kann selber für mich sorgen». Natürlich sorgte man sich trotzdem, suchte überall nach ihr und sogar die Polizei wurde eingeschaltet. Die Mutter suchte jeden Winkel der Drogenszene ab und eilte tagelang durch Strassen und Gassen.
Nach einem Jahr, die beiden andern Töchter waren inzwischen ausgeflogen, zog Valérie mit ihrem Mann nach Rheinfelden, weg von Basel. Die Verzweiflung wich langsam einer dumpfen Traurigkeit.
Wieder war es Weihnachtszeit. Valérie blickte jedem der zahlreichen Bettler in und um den Bahnhof ins Gesicht. Ob wohl Laura auch irgendwo kauerte, fror und hungerte? Eines Tages nahm sie kurz entschlossen den warmen Kaputzenmantel von Laura aus dem Schrank, der immer noch die Kleider ihrer Tochter enthielt. Sie steckte etwas Geld in die Manteltasche und beschloss, das Kleidungsstück einer dieser elenden Gestalten um die Schulter zu hängen, damit sie Weihnachten wenigstens nicht frieren müsse. Mehr konnte sie nicht tun – und sie wünschte wieder einmal, dass kein Mensch sein Kind bettelnd auf der Strasse vorfände.
Und was geschieht dann, in dieser wahren Geschichte? Findet Valérie ihre Tochter und bringt sie heim? Oder kommt sie eines Tages zurück und erzählt eine ganz andere Geschichte?
Da war sie wieder, auf der zerschlissenen Decke, die armselige Gestalt, die seit einigen Tagen immer vor dem Gartentor des Hauses gegenüber, einfache Melodien auf einer Blockflöte blies und offensichtlich auf Spenden der Vorübergehenden hoffte. Entschlossen ergriff Valérie den warmen Mantel und trug ihn hinunter – wenigstens dieser Person würde er etwas Wärme spenden! Sie hängte ihn dem Bettler um die schmalen Schultern und sagte «Frohe Weihnachten», seufzte und fühlte sich hilflos.
Da blickte ein trauriges Gesicht zu ihr auf – und sie sah in die Augen ihrer Tochter. Sie war es, Laura!
Diese Geschichte erzählte mir Valérie persönlich. Natürlich holten die Eltern die junge Frau in ihr Heim zurück – und sicher folgten schwierige Zeiten. Leider verlor ich durch einen längeren, plötzlichen Auslandaufenthalt den Kontakt mit dieser Familie.
Als ich jedoch später einmal in Basel war, glaubte ich plötzlich, auf der andern Strassenseite, in der Dämmerung, Valérie zu erkennen. Sie bückte sich über einen Kinderwagen und unterhielt sich mit einer jungen Frau. Ich rief mehrmals laut – ungeachtet der erstaunten Fussgänger – und wartete ungeduldig auf den Farbwechsel der Ampel. Ich wollte doch so gerne hören, dass alles gut geworden war! Aber in der Menschenmenge des weihnachtlichen Gedränges konnte ich sie nicht mehr finden.
Zuhause wählte ich ihre alte Telefonnummer in Rheinfelden, beschämt, dass ich das nicht schon vor langer Zeit getan hatte. Doch dort wohnte die Familie nicht mehr und niemand konnte mir Auskunft geben. Ich war enttäuscht und traurig – aber, ich gestehe, auch fast ein bisschen erleichtert. Ich wollte doch so gerne einfach glauben, dass die Familie wieder vollzählig und glücklich war. Wie in einer unkomplizierten, wunderbaren Weihnachtsgeschichte.