Inspiriert vom Roman «All Tomorrow’s Parties» aus der sogenannten Bridge Trilogie des Neuromancer-Autors William Gibson (74) entstand beim Musiker Philipp Zürcher (52) vor vier Jahren die Idee zum Projekt «Future-Songs_v2».
Im Lauf der Romanhandlung, die zum Teil auf der demolierten Oakland Bay Bridge in San Francisco spielt, singen zwei Protagonisten in einem improvisierten Barlokal auf der doppelstöckigen Brücke. Inspiriert von dieser Szene bewegt sich Philipp Zürcher seither musikalisch auf den Spuren der Zukunft. Wie wird Musik in fünfzig Jahren klingen, um welche Themen werden die Songtexte kreisen und welche Musik unserer Gegenwart wird den Zeitsprung überleben? Die Lieder der Zukunft könnten auch ein Kommentar auf unser heutiges Zeitgeschehen sein.
«Als Mensch – und somit auch als Musiker, Komponist und Musikproduzent – setze ich mich gerne mit dem aktuellen Weltgeschehen auseinander. Mein Projekt vereint Aktualität und Zukunftsperspektiven.»
Philipp Zürcher
In verschiedenen Workshops sucht er die Auseinandersetzung mit Jungen und Alten, sammelt Ideen – auch bei UND Generationentandem.
«Zukunftsmusik» – die WorkshopteilnehmerInnen
Philipp Zürcher lanciert die Diskussion zwischen jungen Songwriterinnen und Songwritern, die bereits Texte und Musik aus dem Beatcamp8 zum Thema vorlegen, und der älteren Generation. Menschen im Alter von 65+ können musikalisch tatsächlich 50 Jahre zurückblicken und reflektieren, welche Themen, Musikstile und -formate diese Zeitspanne überlebt haben, wie sich Musik entwickelt hat.
Die Musikinteressierten im «und-Raum» haben ganz unterschiedliche musikalische Hintergründe, Erfahrungen und Erwartungen – so hat sich eine ausserordentlich interessante Gesprächsrunde mit musikalisch versierten und interessierten TeilnehmerInnen eingefunden.
Peter Bühlmann (73) bezeichnet sich als Rock-Grossvater, Woodstocker und er ist überzeugt, dass Musik die Welt verändert hat. Die Fragestellung, welche Musik die letzten 50 Jahre überlebt hat, fasziniert ihn.
Andreas Dölitzsch ist soziokultureller Jugendarbeiter beim Verein HipHop Center Bern und leitet dort jeweils 2-tägige Beatcamp-Workshops.
Marielena July (23) ist Sängerin und Musikproduzentin und nimmt an den Berner Beatcamps teil. Heute abend sucht sie Visionen und wünscht sich Feedbacks zu ihrem neuesten Song aus der Runde.
Werner Kaiser (84) ist Violonist. Seit 75 Jahren spielt er dieses Instrument und bewegt sich in der klassischen Sparte. Seit einigen Jahren setzt er sich intensiv mit «Neuer Musik» auseinander – eine grosse Herausforderung an sein klassisches Musikverständnis. Diese neue Musiksprache erlernt Werner nur durch wiederholtes Hören und erläuternde Podcasts.
Karl J. Rechsteiner (ü60) ist Klarinettist und tritt regelmässig mit seinem 94-jährigen Vater, den Brüdern und Sohn in der «Stubemusig Rechsteiner» auf. Dabei erfährt er immer wieder, dass Musik Generationen, Vergangenheit und Gegenwart verbindet.
Marianne Scheuter (68) hat klassisch Klavierpielen gelernt, obwohl dies weder ihrem Talent noch ihren musikalischen Vorlieben entsprach. Heute hört sie vor allem Jazz, Rock, Blues und besucht regelmässig Konzerte.
Markus Thurian spielt seit seiner Kindheit Klavier. Nach einer klassischen Ausbildung interpretiert er heute mit Vorliebe Beatles, Elvis und Chansons.
Futuristische Hörproben – eine Herausforderung
Zur Einstimmung hören wir vier Songs aus dem letzten Beatcamp des HipHop Centers Bern. Hier treffen sich regelmässig junge Musikschaffende für ein Wochenende, um gemeinsam ein Album zu kreieren. Beim letzten Treffen wurden Songs komponiert und getextet, die fiktiv in 50 Jahren gehört werden und unsere heutige Gegenwart besingen.
Wir sind beeindruckt vom Engagement der jungen MusikerInnen, der Vielfalt der Ergebnisse. Es wird viel gerappt, die Texte sind gehaltvoll und bilden einen wesentlichen Bestandteil der musikalischen Botschaft, komponiert wurde am Computer.
Der Rap als Ausdrucksform ist den Alten im Kreis eher fremd und akustisch nicht gut verständlich – zum Glück können wir die Texte mitlesen. Sie beschreiben ein Heute, das viel Schmerz und Zerstörung erfährt, aber auch Hoffnung für eine Zukunft gibt.
«I see Aliens» (Übersetzung aus dem Englischen)
Psayxha (HipHop Center)
Siehst du denn nicht all die Lichter, die jede Nacht so hell leuchten
Vergiss es, ich fühle mich einfach nur high
Muss glauben, den grösseren Zusammenhang zu sehen, die Artenvielfalt
Muss das behalten, und auf bessere Visionen warten
Ich spiele hier nicht bloss herum, werde vergehen
Du weisst was ich meine, keine Frage wir schaffen das
Damals schüttelte sich Mutter Erde, Erdbeben, ich wandle mich
2070 beginnt ausserhalb des Gewohnten und ja, wir rocken
Die mit dem Tool Cubase am Computer erzeugten Klänge sind wohl perfekt, aber für uns Ältere nicht in der Art lebendig wie «echte» Instrumente. Für die Jungen am Tisch ist der digitale Sound so wertig wie ein Instrument, eine Art neues Instrument – sehr komplex, vielseitig, eine Bereicherung für das musikalische Schaffen. Marie Julys Song «Solo Virtual» ist wunderbar poetisch und die Stimme bezaubert – diese Musiksprache verstehen wir besser.
Musikalische Visionen – mit einem Ohr in der Zukunft
Jung und alt am Tisch sind sich einig – Musik und Rhythmen gehören inhärent zum Menschsein, sie sind quasi mit der Zeugung im Menschen angelegt und wirken während des ganzen Lebens, in allen Zeitaltern und Kulturen auf uns ein. Schon immer gab es Kreistänze, der Puls der Erde wurde aufgenommen, Menschen sangen im Chor.
Und immer hat sich Musik auch entwickelt, manchmal nach strengen Regeln, spätestens seit der Zeit des Sklavenhandels aber auch sehr kreativ und frei. Erstmals «vermählten» sich ungewohnte Rhythmen und Klangfolgen mit den im Westen bekannten Weisen. Der Jazz entstand und eröffnete weite musikalische Welten. Musik wurde revolutionär, provozierte, veränderte ganze Generationen und war immer auch ein Spiegel des Zeitgeistes. Wir erinnern uns an das erste Armstrong-Konzert in Bern (1955), an Woodstock, an einen Frank Zappa mit unerhört frechen, irren Songs. Und es ist erwiesen, dass die Musik, die uns in der Pubertät begleitet hat, lebenslang Emotionen hervorrufen wird.
Eine angeregte Diskussion entsteht zu der Hauptfrage – welche Themen, welche Instrumente und Musikformate werden die nächsten 50 Jahre überleben?
Wie wird aus Zeitgeist Zeitloses?
Die Welt wird schneller und rückt näher zusammen – dies wiederspiegelt sich auch in der Musik. Musikalische Prägungen und Wurzeln vermischen sich weltweit und bereichern sich gegenseitig. Kulturelle und kontinentale Grenzen fallen – eine grosse Chance für die Entwicklung der Musik und den interkulturellen Dialog.
Nicht wegzudenken in der Zukunft scheint das Verbindende des Musizierens, die Emotionen an einem Live-Konzert – Menschen suchen den musikalischen Dialog. Sicher wird die Klangvielfalt zunehmen, es wird auch neue Rhythmen und Tonfolgen (für unsere westlichen Ohren) geben.
Musikalisch Bestand haben wohl eher komplexe Kompositionen, archaische und vielfältige Rhythmen und Songs, die berühren, die unser Menschsein im Kern treffen: Beziehung, Ängste, Glück, Tod – poetische, politische, zeitlose Themen werden überleben. Viele der heute aktuellen Mainstream-Songs und Retorten-Klänge werden verschwinden.
Vielleicht entstehen auch neue Formate wie mehrdimensionale Klangräume, Musik kombiniert mit anderen sensorischen Eindrücken, Virtuelles wird mehr Raum einnehmen. Aber es gab immer auch schon Revivals – heute besuchen beispielswiese junge Fans Mittelalter-Festivals mit entsprechender Musik. Neben digitalen Formaten wird die analoge Musik immer Bestand haben.
Musikalischer Ausblick
Der Flipchart ist voll von Ideen, der Geist möchte – inspiriert von den vielen Impulsen im Workshop – noch weiterreisen. Die Fragestellungen waren unglaublich interessant, das Ungewisse der musikalischen Zukunft ist anregend.
Die Runde wünscht sich für die Zukunft im Jahre 2070, dass wir gemeinsam – auch im Generationenmiteinander und im interkulturellen Austausch – das Musikuniversum ausschöpfen. Das Alte, Gewachsene soll weiterhin leben neben einer grossen Offenheit für ganz neue Welten: Es soll Lebendiges und Revolutionäres entstehen. Die Welt soll sich musikalisch immer weiter verbinden und sich unbedingt andere kulturelle Impulse aneignen – darüber sind wir uns einig.
Ob künftige Musik wirklich so anders sein wird als jene, welche die letzten 50 Jahre überlebt hat? Diese Frage können wir erst in 50 Jahren beantworten.
Was alle TeilnehmerInnen des Workshop beeindruckt hat, ist das Zusammenspiel der Generationen, der Kulturen, von Vergangenheit und Gegenwart, sobald wir uns über Musik austauschen.
Philipp Zürcher wünschen wir, dass sein Projekt grosse Kreise zieht, dass seine Zukunftssongs und der damit verbundene Dialog auch auf die Bühne kommt – denn Musik kann Grenzen überwinden und neue Welten erschaffen.