
Das bedeutet Literatur an der Aare, und zwar in Thun. Es wird vorgelesen und darüber gesprochen an dem dreitägigen Anlass. Es kommen bestandene Grössen zum Zug – heuer Lukas Bärfuss –, mehr jedoch neue, oft junge AutorInnen, ja EinsteigerInnen; und die Palette an Texten ist gross, wie schon nur drei Auftritte vom Samstag, dem 4. März belegen. Das Publikum bekommt seine Chancen, wenn es mal überfordert worden ist, wie ich von der kompakten Lyrik zweier Wettbewerbs-Gewinnerinnen. Daher sei hier von zwei anderen Präsentationen die Rede.
Literaare taucht übrigens zweimal im Jahr auf – als nächste folgt die «Herbstlese» im November.
Zum Beispiel Leta Semadeni
Angeregt und berührt hat mich der Auftritt (im gediegenen Rathaus-Saal) der Gewinnerin des diesjährigen Grand Prix Literatur (aus dem Bundesamt für Kultur). Da stand, also sass eine muntere, energische fast 80jährige Frau Rede und Antwort – und las aus ihrem neuen Roman «Amur, grosser Fluss». «Amur» nicht französisch, sondern rätoromanisch – heisst aber dasselbe, und spielt mit dem gleichnamigen Fluss an der chinesisch-russischen Grenze. Eine Liebesgeschichte ist es, aber eine verschleierte, mit vielen Bezügen zum Leben der Hauptfigur Olga sowie zu deren Heimat im Bündnerland, zu «Tamangur», wie der Titel des ersten Romans lautet, mit dem Leta Semadeni bekannt wurde (2015). Die Liebe gilt einem Mann, aber ebenso der Natur, Tieren, andern Menschen, dem Universum.

Leta Semadenis Muttersprache ist Rätoromanisch; ihre Gedichte hat sie in den zwei Sprachen verfasst, die Romane nur noch auf deutsch. Ein Auftragsgedicht hat sie auch mal in allen vier Landessprachen geliefert.
Geheimnisse einer Schriftstellerin
Lest diese Romane, es lohnt sich, wenn man Musse hat, gewundenen Gedanken und Sprüngen folgen mag. Die Bücher sind schmal, die Kapitel sehr kurz. Einige hat die Autorin vorgetragen: Das war nur ein erster Blick in ein Puzzle, aber weckte Lust auf mehr. Eine wache Frau, ein schmales, markantes Gesicht, doch ständig ein Lächeln im Winkel; leichtes Zittern, die schulterlangen Haare wohl gefärbt – aber eine Präsenz!
Einleuchtend die Einblicke, die Leta Semadeni in ihre (Schreib-)Welt gab. «Die Sprache: die grösste aller Erfindungen» sei ihr wichtig. Ihre Texte folgten nicht einem strikten Plan, sondern wüchsen aus jahrelanger Sammeltätigkeit. Alles Mögliche notiert sie: «Wenn mir etwas auffällt, hat es etwas mit mir zu tun». Sie schreibe «unökonomisch» – es gebe viel Abfall – und impulsiv, intuitiv. Auf ein entsprechendes Resultat müssen sich LeserInnen einlassen!
«Wenn mir etwas auffällt, hat es etwas mit mir zu tun.»
Leta Semadeni
Ein Müsterchen noch, aus «Amur, grosser Fluss» gepickt, eine augenzwinkernde Aussage der Grossmutter dort: «Mit dem Kriminellwerden sollte man besser warten, bis man alt ist. Dann macht es ganz besonderen Spass, die Regeln einmal links liegen zu lassen …» Als Schriftstellerin hat Leta Semadeni mit Erfolg allerhand Regeln liegen lassen.
Spoken Word
Weiter geht es im Keller des «Mundwerks» an der Oberen Hauptgasse, in welchem an diesem Nachmittag «I can buy myself Blüemli» und «C’est le lac» gesprochen, ja fast gesungen wird. Die Interpretinnen sind die Bernerin Moët Liechti und die Baslerin Daniela Dill, musikalisch begleitet von Jan Dintheer. Die Veranstaltung ist gut besucht und das Publikum bunt gemischt.

Zuerst kommt Daniela Dill auf die Bühne. Sie erwähnt, dass sie und Dintheer noch nie gemeinsam geübt haben, doch es stellt sich heraus, dass dies kein Problem sein wird. Kurz bevor sie ihr erstes Gedicht aus ihrem Buch «DurZueStänd» vorträgt, atmet sie kurz ein, lässt ihren Blick über die Reihen schweifen, dann setzt eine launische Gitarre mit ihr ein.
Was Daniela Dill vorträgt, ist unterschiedlich; es geht um Gschwellti, um Malta, um Füchse – um andere Personen. Ein Gedicht sticht besonders heraus; als kleine Einleitung dafür erzählt sie über einen Workshop, den sie einmal an einer Schule gegeben hat. Dabei hätten sie SchülerInnen gefragt, ob man auch fluchen dürfe. Und ja, in diesem Gedicht wird geflucht. Dill erzählt von einem Mädchen, das erwachsen wird und als 40-Jährige immer noch die Regeln ihrer Eltern und der Gesellschaft befolgt. Doch dann kommt die Wende: Die Frau steigt auf den Tisch während dem Abendessen und ruft: «Figget öich… syt so guet.»
Übers Erwachsenwerden
Als Nächste steigt Moët Liechti auf die Bühne. Und für die im Publikum, welche sich fragen, wo sie diesen Namen schon mal gehört haben, hat sie auch eine Antwort parat: Sie liest frisch und knackig aus ihrem rot eingebundenen Notizbuch über die Probleme eines 2000er-Jahrgang-Kindes, welches einen Champagnernamen trägt. Sie bemängelt die Kreativität ihrer Eltern bei der Namensgebung und kontert direkt: «Aber i bi es Upgrade; mi Vater heisst Heinz, er isch es Ketchup.»

Moët Liechti bleibt für den Grossteil ihrer Performance bei unbeschwerten Themen, oder zumindest beschönigt sie diese mit forcierter Heiterkeit. So berichtet sie auch über ihre Zweifel als Primarlehrerin und verflossene Fast-Beziehungen.
«Aber i bi es Upgrade; mi Vater heisst Heinz, er isch es Ketchup.»
Moët Liechti
Es sind alltägliche Situationen, in welchen sich alle einmal befunden haben; doch die Weise, wie Moët Liechti diese erzählt, ist von der Eigenart ihrer Generation geprägt. Diese passiv-aggressive Frustration gegenüber den alltäglichen Wehwehchen lässt die Wut unter der Haut erahnen, doch nicht antasten dank Liechtis strategisch platzierten Lächeln. Kurzum: Man will ihr nicht begegnen, solange sie keinen Kaffee oder Wein intus hat, wie sie selbst erklärt.