Zunächst ein paar Überlegungen, ja Spekulationen aufgrund der Mythen, zur Entwicklung der Menschheit. Denn neben vielen Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen zeigen sich doch Unterschiede.
Naturreligionen dürften einen urtümlichen Zustand darstellen: Die ganze Welt ist beseelt, Götterfiguren braucht’s vielleicht nicht (hier: die Kelten). Auch die Idee vom ewigen Kreislauf des Lebens mag hierhin gehören. Spätere Zeiten lassen eine zunehmende Intellektualisierung erkennen, auch eine Moralisierung – Religionen werden «erzieherisch». Von mütterlichen Prinzipien geht’s eher zu patriarchalen. Und monotheistische Religionen lösen die polytheistischen ab. Das bewusste Bekenntnis zu einer Religion wird zentral. Natürlich überleben in unsern modernen Auffassungen viele altertümliche Vorstellungen: viele sehr bildhafte, das, was wir wohl «Aberglauben» nennen, vieles gerade zu «Himmel und Hölle». Konzept und Praxis einer Religion unterscheiden sich oft markant. Auch herrscht in der modernen Welt, einer zugleich globalen und individualistischen, eine Art «religiöser Markt», wo viele sich Passendes zusammensuchen.
Wie kommt es dazu?
Wie kommen Menschen
darauf, sich Religionen zuzulegen, mit deren Ideen, die über das irdische Leben
hinausgehen? Anscheinend ist der Mensch nie zufrieden mit diesem Leben. Weil er
ein Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft besitzt, stellt er sich Fragen
über das Diesseitige hinaus. In der Natur nimmt er Kräfte wahr, die ihn
übersteigen, überwältigen. Er kann über die wichtigsten Dinge nicht
bestimmen; aber er empfindet ein Bedürfnis nach Erklärung, nach Sinn, und dazu
braucht er etwas Übernatürliches. Bei all dem Schlechten, das er sieht,
erwünscht er sich auch Gerechtigkeit, eine moralische Ordnung. Oder er bekämpft
seine Angst vor dem, was er nicht wissen kann: Was ist nach dem Tod?
Bilder aus der Kindheit
Einiges nun auch zum persönlichen Erleben: Himmel und Hölle und die allgegenwärtige Sünde – unter diesen katholischen Vorstellungen hat Elisabeth als Kind gelitten. Arbër hat die religiösen islamischen Bilder praktisch, konkret überdacht. Sie sind ihm nicht real geworden. Er möchte sich den Himmel hier erschaffen.
Ähnlich findet Annemarie, wir erlebten Himmel und Hölle hier und jetzt; ausschliesslich Schönes dürften wir nicht erwarten. Manchmal werde es aber schwer, bei all dem Elend ans Gute zu glauben. Das «Himmelreich», eine Vollkommenheit, könne zuweilen im aktuellen Leben aufscheinen, wie auch das Gegenteil, sagt Elias. Wie kommen wir mit Gut und Böse klar? Alena mahnt: «Wir wollen über alles richten, doch das steht uns nicht zu.»
Durch die Kulturen
Einerseits uralte Ideen aus längst untergegangenen Kulturen – können wir die verstehen? –, andrerseits unsre persönliche Einstellung zu so beunruhigenden Fragen wie: Gibt es ein Leben über den Tod hinaus? Eigentlich viel zu viel für ein gut zweistündiges Gespräch. Die Diskutierenden haben es dennoch gewagt und legen hier neben den Gedankengängen aus der allgemeinen Diskussion ihre individuellen Beiträge zu den berücksichtigten Mythologien vor.
Keltisch: Eine Anderswelt

Elisabeth Jost (66): Die keltische Kultur umfasste etwa dreitausend Jahre, sie erstreckte sich von den Steppen Asiens über Mitteleuropa bis auf die britischen Inseln. Die Kelten waren kein einheitliches Volk, sondern setzten sich aus vielen Stämmen zusammen. Sie hinterliessen leider keine schriftlichen Zeugnisse.
Die Religion basierte auf Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit der Natur. Die ganze Umwelt war beseelt, jede Pflanze, jeder Berg, jedes Gewässer war Heimstatt göttlicher Wesen, manche den Menschen wohl gesonnen, manche zerstörerisch. Ein Himmel als Ort der Belohnung und eine Hölle als Ort der Bestrafung oder Läuterung existierten nicht. Es gab eine Unterwelt als Wohnsitz von Erdgeistern und Dämonen, die sich in Naturphänomenen manifestierten.
Der Glaube an den Eintritt in eine Anderswelt nach dem Tod und eine Wiedergeburt, in welcher Form auch immer, war stark. Damit verlor der Tod seinen Schrecken. Die Anderswelt existierte parallel zur sichtbaren Welt, der Zugang konnte sich auf einer Insel, einem Berg oder an einem anderen speziellen Ort befinden. Zu bestimmten Zeiten (zum Beispeil Samhain, heute Allerheiligen) und an bestimmten Orten (zum Beispiel in Höhlen) konnten sich Tore öffnen, die einen Austausch zwischen Lebenden und Toten möglich machten.
Viele unserer Volksbräuche gehen auf keltische Rituale zurück, meist ohne dass wir uns des Ursprungs noch bewusst sind.
Maya (Mexiko): Der Himmel ist zugänglich

Alena Bucher (22): Bei den Mayas ist das Universum dreigegliedert: die neunstufige Unterwelt, genannt «Xibalbá», was übersetzt «Ort der Angst» bedeutet, die von Menschen bewohnte «mittlere Welt» und als dritte Ebene «die himmlische Welt».
Sowohl Xibalba als auch die himmlische Welt werden im Glauben der Mayas von Göttern bewohnt. Diese werden in eindrücklichen Ritualen um Fruchtbarkeit, Regen, Sonne und vieles mehr gebeten. Eine Vorführung davon erlebte ich selbst auf meiner Reise durch Mexiko. Leider war aber auch die Opferung von Tier und Mensch gang und gäbe.
Grundsätzlich kommen alle Mayas erst mal nach Xibalbá. Dort werden ihnen auf allen neun Ebenen Prüfungen auferlegt. Wer diese Prüfungen besteht, kann durch den Lebensbaum in die himmlische Welt aufsteigen. Der Zugang zu Xibalbá befindet sich in Höhlen oder den sogenannten heiligen «Cenoten» (Teichen).
Direkter Zugang zum Himmel gewährt wird:
Selbstmördern, Geopferten und Frauen, die im Kindbett
starben.
Der Mayakalender hat nur 360 Tage im Jahr, die restlichen fünf werden «Unglückstage» genannt, denn dann öffnet sich das Tor zur Unterwelt.
Christlich: Anbruch der Ewigkeit

Elias Rüegsegger (26): Im Gegensatz zur Götterwelt findet in der Welt des Ersten Testaments eine Verdichtung hin zu einem Gott statt. Eine klare «Lehre» von Hölle – erst recht vom Himmel – gibt es nicht. Der hebräische Begriff «Scheol» bezeichnet die Unterwelt, die finster ist, wüst und leer. Die Jünger und ersten AnhängerInnen Jesu waren geprägt vom Gedanken: Wir werden die Wiederkunft Jesu Christi erleben und mit ihm in den Himmel fahren und dann ein ewiges Leben in direkter Gottbeziehung erleben. Nach 2’000 Jahren ist diese Endzeitstimmung kaum mehr nachvollziehbar. Konkrete Bilder vom weissen, paradiesischen Himmel und der dunklen, verzehrenden Hölle prägen die Idee eines «Jenseits» heute dennoch – meist negativ. Denn: Genau davon wenden sich viele ab, zu Recht natürlich. Doch bleibt vielleicht eine Hoffnung, dass der Mensch, sein Leben und seine Seele auch im oder nach dem Tod eine Bedeutung behalten. Und dass alles Leid, jede Träne nicht einfach auf ewig bleibt – höllisch wäre das.
Ich mag den Gedanken, dass wir Menschen hier und jetzt in Beziehung miteinander auch schon eine Art «Himmel», einen Anbruch einer Ewigkeit erleben können. Mitten im Unvollkommenen und Zerbrochenen, das uns in der Welt und in uns selbst umgibt.
Griechisch: Die Toten sehen?

Heinz Gfeller (71): In einer halb realen, halb imaginären Welt lebten die «alten Griechen» mit ihren Göttern – und starben, anders als diese. Und danach? Abgeholt wurden die Seelen – vom Götterboten Hermes; zur Unterwelt geleitet; deren Flüsse hatten sie zu überqueren; aus einem tranken sie Vergessen; einen Rückweg sollte es nicht
geben.
Solches liest man in der Odyssee, dem uralten «Roman»; besonders, wie Odysseus selber, ein Lebender, am Rand des Ozeans die Toten aufsucht: Zumindest «schaut er hinüber». Und jene lassen sich herbei, versuchen, wieder zu Leben zu kommen, zu sprechen. Es bedarf dazu magischer Rituale, eines blutigen Opfertranks. Die Schatten – wesenlos scheinen die Toten da unten, im Finstern, herumgeschwebt zu sein – drängen nun; doch der Held vermag sie mit blossem Schwert abzuwehren. Viele Informationen holt er sich von ihnen, viel Abschreckendes auch, aus den Erinnerungen (also doch?) der Verstorbenen, im Blick in den Tartaros, das unterste Abteil, wo die Schlimmsten geplagt werden, Sisyphos, Tantalos…
So recht gestorben waren sie also nicht, etwas war noch da, eher kläglich. Nichts geschah ihnen mehr, die Zeit stand still. Erbaulich? Erstrebenswert?
Ägyptisch: Mit dem Körper ins Jenseits

Arbër Shala (27): Die Religion der alten Ägypter war in allen Lebensbereichen präsent. Jedes Ereignis, wie zum Beispiel der unvorhergesehene Tod einer Katze, wurde als Verhalten der Götter angenommen. Das Repertoire an Gottheiten war immens; ständig kamen neue hinzu, ohne dass die alten dadurch ihre Stellung einbüssten. Sie wurden als Tiergestalten mit menschlichen Zügen dargestellt.
Der Gott der Unterwelt war für die alten Ägypter Osiris. Osiris war ein Gott-König. Der Legende nach erschlug sein böser Bruder Seth ihn aus Neid wegen seiner Beliebtheit beim Volk. Isis, Osiris‘ Ehefrau, liess ihn wieder auferstehen. Sein Sohn Horus, der Himmelsgott, rächte den Vater und gewann so die Herrschaft über die Erde. Jeder Pharao regierte als Horus auf der Erde; starb er, wurde er Osiris und Herr der Unterwelt. Sein Sohn wurde dann der neue Horus auf Erden. Für den Ägypter bedeutete das Leben nach dem Tod körperliche Existenz, nicht geistiges Scheinleben. Es war also wichtig, den toten Pharao zu mumifizieren, damit er seine Reise als Herr der Unterwelt antreten konnte. Die Reise führte der Totengott Anubis auf einem Schiff. Dort wog Anubis das Herz des Pharaos, bevor er ihm seinen Segen gab und er danach als Osiris weiterherrschte.