Ein neuer Kindergarten im Altersheim ‘Sunneschin’ soll den Kontakt zwischen Generationen fördern. «Eine Win-win-Situation», wie der Gemeindepräsident unermüdlich wiederholte, wenn er sich für dieses Projekt stark machte in den hitzig geführten Diskussionen an den Gemeindeversammlungen. «Das Kinderlachen wird viele einsame Herzen erwärmen. Und die Lebensgeschichten der Pensionäre werden den Kindern eine Ahnung geben vom Leben, als die Geschichten noch nicht von sozialen – oder muss ich sagen von unsozialen? – Medien erzählt wurden.»
Paul Meier ist gerade neunzig Jahre alt geworden und lebt seit drei Jahren im ‘Sunneschin‘. Er hat sich kaum an den aufgeregten Diskussionen unter den Pensionären beteiligt, die der heutigen Eröffnung des Kindergartens vorausgegangen sind. Weder freut er sich auf das fröhliche Treiben der Kinder noch fürchtet er sich vor dem damit verbundenen Lärm und der ungewohnten Aufregung. Solche Gefühle dringen nicht mehr zu ihm durch. Er ist müde im Kopf und lebt vorwiegend in seiner Gedankenwelt. Oft gibt er sich, während er auf seinem Stuhl vor dem Fenster sitzt und vor sich hin dösend auf den See hinaus blickt, seinen Erinnerungen hin. Als die Pflegefachfrau Rose Anand aus Thailand mit ihrem liebevollen, anteilnehmenden Lächeln im Gesicht sein Zimmer betritt, denkt er gerade an seine vor drei Jahren an Lungenkrebs gestorbene Frau Lisa, und er blickt sehnsüchtig zum Himmel. «Könnte ich doch endlich zu dir. Was hat das Leben hier unten noch von mir zu erwarten?» Rose reisst ihn aus seinen Gedanken. «Herr Meier, es wird Zeit. Die Eröffnungsfeier beginnt in einigen Minuten. Die Kinder und ihre Eltern sind schon da.»
«Sie hätte auf mich hören und weniger rauchen sollen, Rose.» Manchmal lässt Rose zu, dass sie sich mit Vornamen anreden, auch wenn dies gegen die Regeln verstösst.
«Sind Sie wieder bei ihr, Paul? Sie kann ja mitkommen. Lisa hat doch Kinder so geliebt.»
Paul schlurft in seinen bequemen Hausschuhen zum Lift. Sein weisses Hemd trägt er offen über der immer gleichen grauen Hose. Er gleitet in das Untergeschoss hinunter und setzt sich in dem festlich geschmückten Kindergartenbereich ganz hinten an einen Tisch. Er lässt sich freundlich dankend Kaffee einschenken. Den Kuchen beachtet er nicht.
Die beiden Stühle neben ihm bleiben leer.
Die mit viel Eigenlob gespickte, nicht enden wollende ‘Kurzansprache‘ des örtlichen Gemeindepräsidenten erreichen Pauls Aufmerksamkeit so wenig wie die Chorlieder der Kinder und die ersten organisierten Spiele zwischen Jung und Alt. Er ist bei der Frage nach seiner Schuld am Tod seiner Frau Lisa hängen geblieben. Hätte er nicht mehr tun können, ja tun müssen, um sie vom Rauchen abzuhalten?
«Warum bist du so traurig?» Erschrocken schaut Paul in die dunklen Augen eines Mädchens mit offen getragenem schwarzem Haar, das vor ihm steht und ihn aufmerksam anblickt.
«Anna….!?», stottert Paul. Für einen Augenblick glaubt er, seine ältere Tochter stehe vor ihm, wie einst, vor langen Jahren.
«Ich heisse doch nicht Anna», lacht das Mädchen. «Ich bin Sofia. Und wie heisst du?»
Weisst du,
Herr Meier,
ich bin auch traurig. Deshalb bin ich zu dir
gekommen. Willst du wissen, warum?
«Ich, ich…» Paul schaut sich hilfesuchend um. Rose zwinkert ihm aus der Ferne aufmunternd zu. «Ich heisse Herr Meier.»
«Darf ich zu dir sitzen, Herr Meier?» fragt Sofia höflich. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzt sie sich auf einen Stuhl und rückt diesen ganz nahe zu ihm. «Warum hast du deinen Kuchen nicht gegessen?» Bevor Herr Meier antworten kann, verschwindet der Kuchen in ihrem Mund. «Weisst du, Herr Meier, ich bin auch traurig. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Willst du wissen, warum?» Herr Meier streichelt Sofia über das Haar. «Entschuldige Kind, ich habe deinen Namen vergessen.»
«Das macht doch nichts. Mein Grossvater hat überhaupt immer alles vergessen. Ich heisse Sofia. Und Grossvater ist gestorben. Es ist noch gar nicht lange her. Siebenmal schlafen oder so. Willst du mein neuer Grossvater sein, Herr Meier?» «Dein neuer Grossvater, Sofia?» «Hier bekommen die Kinder doch neue Grossväter und Grossmütter. Kommst du mit mir in den Zoo, Herr Meier? Das hat mein Grossvater auch immer gemacht mit meiner älteren Schwester, als er noch nicht alles vergessen hat. Wann hast du Zeit?»
«Zeit? Ich hab immer Zeit. Aber ich muss Rose fragen, ob wir das dürfen.»
«Wer ist Rose?»
«Sie kümmert sich um mich wie eine Mutter.»
«Blöd. Sie sagt bestimmt ‚nein‘. Meine Mutter sagt auch immer nein. Sie hat nie Zeit.»
«Was führt ihr beiden im Schilde?» Eine gepflegte Frau in den Vierzigern im eleganten Hosenanzug steht plötzlich vor ihnen und blickt Paul forschend ins Gesicht.
«Mama, Herr Meier ist mein neuer Grossvater. Er will mit mir in den Zoo, so wie es Grosspapi mit Jelena gemacht hat.»
«Da hab ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden, nicht wahr, Herr Meier.» Sie schüttelt ihm die Hand. «Babic. Ich bin die Mutter von Sofia.» In diesem Moment kommt Rose hinzu. «Den Zoo baut ihr zuerst hier im Kindergarten, oder, Herr Meier?»
«Ja, ja, mit Lisas Hilfe vielleicht.» Nur Rose sieht, wie Paul Lisa auf dem leer gebliebenen Stuhl neben ihm anlächelt und ihr Tee einschenkt, bis die Tasse überläuft. «Das ist gesünder als rauchen.»
«Verbinde die Generationen!» – alle Beiträge
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