Mara Brügger (19), Telsche Keese (80)

Telsche:
Strahlen
durch fahle Wolken
wecken Farben
wie aus der Wundertüte
Vogelsang
im Birkengrün:
Kein Zweifel
Träume aus Hoffen
blühen
wie Zaubernüsse
Schneeglöckchen
feiern Premiere
bimmeln im Wind
und hören nicht mehr auf
Mara: Ich wache auf. Auf einer wunderbar farbigen Blumenwiese, die nur so spriesst mit neuem Leben. Ein kühler angenehmer Wind weht und ich fühle mich lebendig. Ich blicke in den klaren hellblauen Himmel. Immer wieder sehe ich Bilder in den Wolken: einen Elefanten, einen Engel, einen Baum, ein Flugzeug, eine Familie… Ich bin versunken darin, Bilder zu suchen, Neues zu finden, Neues zu entdecken.
Unter meinen Beinen spüre ich das frische Gras, welches mich kitzelt. Ein Halm streicht über meine Wange und löst ein Frühlingskribbeln in meinem Bauch aus. Ein wunderbares Gefühl.

Als wäre ich frisch verliebt. Ganz frisch. Verliebt in den Wind, der meinen Körper streift. Verliebt in das frische Gras, welches in meiner Nase kribbelt. Verliebt in die Sonnenstrahlen, die mein Gesicht wärmen. Verliebt in die Wolken, die Bilder formen. Verliebt in die wunderbar farbigen Blumen, die die Wiese schmücken. Ich wache auf und ich bin verliebt in den Frühling. Ich wache auf und habe Schmetterlinge im Bauch. Ich wache auf und ich hoffe, hier niemals weggehen zu müssen. Ich bin wunschlos glücklich, hier an diesem einzigartigen Ort. Du wachst auf und bist verliebt. Verliebt in alles.
Telsche: Ja, die Welt umarmen, weil Frühling ist, das kenne ich wie du. Er ist da, endlich farbenprächtig, mit lauem Wind und Blumen, die alle himmelwärts wollen. Wir haben schliesslich so lange auf ihn gewartet. «Jetzt wird sich alles, alles wenden»….

Du träumst, folgst allen Wolkenlinien, die sich ständig wandeln, die mit dir wie Gaukler ihre Possen treiben – mal Engel, mal Bengel – sich vor dir aufbauen und schwupps wieder vergehen. Wie wird alles sein, was wartet in der Weite des Lebens auf mich? Alles ist wie am Anfang der Welt, «ganz frisch», ja, das ist es. Jetzt wächst uns Energie zu, alles ist möglich, Herz, was begehrst du? Frühling ist Verheissung, aber gewiss kein Versprechen, das weiss ich nach so vielem Beginnen in einem Frühling. Und doch: Die erste Jahreszeit kommt so tröstlich, so ungefragt, ohne unser Zutun, unbegreiflich. Das empfinden wir alle und es verbindet uns. Wir lieben das Geheimnis dahinter, wollen es sehnsüchtig entschlüsseln und das grosse Rätsel lösen, was wohl die Zukunft für uns bereithält.

Wir sehnen uns, wonach eigentlich? Sehnsucht hört nicht auf, sie vergeht nicht, sie lockt uns von einem Jahr zum anderen, auch mich immer wieder, obwohl ich den Schwarm der Schmetterlinge längst vertrieben habe. Heute rätsle ich mit meinen Enkelkindern: Was wird kommen? Meine Anfänge sind längst konkret geworden in meinem gelebten Leben. Heute schaue ich darauf zurück, etwas nachdenklich, waren das meine Träume, als ich 19 Jahre alt war? Was vor mir liegt, ist kleinräumiger geworden, weil meine Jahre schwinden. Frühlingstage erlebe ich als rares Gut. Ich fühle mich klein vor der grossen Lehrmeisterin Natur, aber ich freue mich und lache, wenn früh im Jahr ihre schöpferische Kraft so mächtig aufbricht.
Mara: Ich sehne mich nach den Schmetterlingen im Bauch, die, wenn ich aufwache, mich berühren. Mal sanft, mal mit aller Wucht. Ich sehne mich nach Träumen, die ich nicht aufzugeben versuche, die ich behalten möchte. Die ich tragen möchte. In meinem Herzen. Ich sehne mich nach Sonnenstrahlen, die meine Haut wärmen, so lange, bis ich mich sicher fühle. Solange ich es brauche. Ich sehne mich nach einer Seele, die sich gut fühlt. Wenn die Seele sich gut fühlt, am richtigen Ort fühlt, dann kann ich fallen, weil ich sicher bin. Weil ich mich sicher fühle und weiss, dass ich aufgefangen werde. Aufgefangen und gehalten von den Schmetterlingen in meinem Bauch. Von den Träumen, die mich stärken, und von den Sonnenstrahlen, die mich mit Energie erfüllen. Das Frühlingskribbeln, welches mich mit Mut erfüllt, das mir Kraft gibt. Kraft um zu überleben. Und Energie um nicht aufzugeben.
Telsche: «Ich möchte bei mir sein, ganz ohne den Blitz, den Wind und den Regen…», so beginnt eines meiner Gedichte. Du hast auch diesen Wunsch und den Willen, sie sind dir Motor und Vorsatz für alles Zukünftige. Du wärst aber die erste, die nicht irgendwann merkte, wie wir eingebettet sind in eine Zeit, in soziale und familiäre Gegebenheiten, die von aussen in unser Leben hineinspielen, es sogar verändern können, wie wir es nie wollten. Diese Störenfriede zu entlarven, sie argumentativ aus dem Weg zu räumen oder sie mit weiblicher Klugheit zu umschiffen, dabei die eigenen Emotionen auf ihren Platz zu verweisen, das ist schwer. Man muss es täglich üben. Heute denke ich so, blieb aber viel zu lange eine Träumerin, war nicht vif genug, früh zu erkennen und entsprechend zu handeln, aber meinen Kompass habe ich nie aus den Augen verloren, Glück gehabt!
Es ist ein wunderbares Gefühl, beim Argumentieren dem blankgefegten Himmel sein Gesicht entgegenzustrecken, sich selbstgewiss zu erleben und immer wieder neu zu wagen. Das sind für mich die echten Anfänge, frisch und neu gedacht. Geben wir nicht auf, dann gibt es für uns ewigen Frühling. ☐