Lea im Glück
Anita Bucher (56)
Lea wohnt in einem Hochtal weit oben in den Bergen, umringt von blühenden Bergwiesen und einem klaren See, in ihrem schmucken Häuschen. Eines Morgens macht sie sich vor Sonnenaufgang in ihrem besten Kleid mit Rucksack und Hut auf Richtung Postauto im Dörfli. Sie will endlich ihre Goldstücke umtauschen, wie sie ihrer Mutter vor deren Tod versprochen hat. Stunden später steht sie im ungewohnten Trubel der Stadt. Flink überquert sie den belebten Bahnhofplatz und flüchtet sich ins Gebäude gegenüber, wo sie staunend ein farbenprächtiges Bild mit einer Berglandschaft bewundert. Ein Herr im Anzug begrüsst sie höflich: «Ja, der junge Maler hat Stimmung und Licht gekonnt auf die Leinwand gebracht. Ich habe schon zwei Interessenten für dieses Prachtwerk.» Anna zeigt ihren Beutel und der Tausch ist perfekt. Strahlend schleppt sie das grosse Gemälde zu einem Park. Uh! Diese Hitze, und schwer ist das Bild! Durstig trinkt sie aus ihrer Wasserflasche. Ah, tut das gut. Da sieht sie einen Strassenmaler. «Was hast du für eine schwere Last? Zeig her!» Beim Anblick des Bildes funkeln seine Augen. «Nicht schlecht», meint er.
Ein Bild vom Meer mit Sanddünen fasziniert Lea. Berge sehe ich immer – und es wäre leichter, denkt sie. Der schlaue Mann wiegt den Kopf abwägend. «So einer hübschen Frau gebe ich es im Tausch um dein Bild, frisches Brot und eine würzige Wurst obendrein.» Welch ein Glück, denkt Lea mit knurrendem Magen. Ohne Argwohn überlässt sie ihm das wertvolle Bild und ergreift freudig das kleinere. Im Schatten der Bäume geniesst sie das feine Essen. Gestärkt und frohen Mutes schlendert sie weiter und gelangt zu Marktständen. Ein Stand mit bunten Vasen aus Glas zieht sie an. «Sie stammen aus der Glasbläserei von Murano bei Venedig», erklärt die Marktfrau. Lea schaut die gewünschte Vase an, dann das Bild.
«Ciao Anna, ich muss dir etwas zeigen!» ruft Lea. Eilig nimmt sie die Vase aus dem Rucksack und reicht sie Anna hinauf.
Wo hänge ich es auf? «Tauschst du diese Vase gegen mein Bild?» Die Frau stimmt dem Handel zu und Lea packt die zierliche Vase glücklich ein. Mit grossen Schritten kämpft sie sich durch die Menschenmenge und erreicht knapp ihren Zug. Zufrieden denkt sie: Was habe ich heute für ein Glück, alles gelingt mir. Es dunkelt bereits, als sie aus dem Postauto steigt und den steilen Weg zu ihrem Heim in Angriff nimmt, wo sie ihre Freundin auf dem Balkon erwartet. Die beiden sind seit Kindheitstagen unzertrennlich und als Leas Mutter starb, zog die ebenfalls alleinstehende Anna bei ihr ein. «Ciao Anna, ich muss dir etwas zeigen!» ruft Lea. Eilig nimmt sie die Vase aus dem Rucksack und reicht sie Anna hinauf.
Bevor diese sie im Halbdunkel ergreifen kann, lässt Lea los und die Vase zerbricht in tausend Stücke. Anna erschrocken: «So ein Pech, tut mir leid!» Lea lacht auf und sagt: «Macht nichts, wofür brauche ich eine Vase! Ich sehe die Blumen viel lieber auf der Wiese, wo sie länger blühen. Was bin ich froh, wieder daheim zu sein. Nicht nach der längsten Bergtour bin ich so geschafft! Auch mit meinen 60 Jahren bin und bleibe ich ein Kind der
Berge.»

Sofie im Glück
Mara Ludwig (17)
Sofie blickte auf das Papier, das vor ihr auf dem Klapptisch lag. Was sollte sie ihrer Mutter nur schreiben? Wie konnte sie sich für das entschuldigen, was passiert war? Mit einem Seufzen setzte die junge Frau den Bleistift aufs Papier und begann zu schreiben.
Liebe Mama
Was passiert ist, tut mir leid. Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht so gemeint habe. Wir hätten uns nicht so streiten sollen. Dass ich ausgezogen bin, war ein Fehler, wie ich glaube. Ich habe mich einfach so kontrolliert gefühlt. Bei dir hat mir die Freiheit gefehlt, auf meinen eigenen Beinen stehen zu dürfen. Deshalb bin ich, wie du weisst, mit Mia zusammen in eine WG gezogen. Am Anfang war das alles ja gut und recht, aber dann hatten wir immer mehr Zänkereien und Zoff. Und alles immer nur wegen Kleinigkeiten. Mal war die Küche nicht aufgeräumt, mal die Fenster zu schmutzig oder dann hat jemand von uns Freunde eingeladen, ohne es der anderen gesagt zu haben. Deshalb bin ich nach zwei Monaten in eine eigene Wohnung gezogen.
Zuerst war das alles super und ich genoss die Freiheit, einfach mal allein sein zu können. Aber nach kurzer Zeit sehnte ich mich nach noch mehr Freiheit, da ich mich zu sehr an einen einzigen Ort gebunden fühlte. So beschloss ich nach drei weiteren Monaten, meinen festen Wohnsitz aufzugeben und in einen Wohnwagen zu ziehen. Ich reiste umher und genoss das einfache Leben. Aber nach wenigen Wochen bemerkte ich, wie mühsam es doch ist, immer wieder den Wagen umstellen zu müssen.
Also gab ich auch diesen auf. Ich verkaufte ihn und schaffte mir dafür ein Zelt an. Jetzt war ich komplett frei. Ich campierte auf Wiesen, Bergen, in Wäldern und an Stränden. Doch als es in den letzten Tagen so heftig regnete, habe ich bemerkt, dass das Leben im Zelt einfach nicht ideal ist. All meine Klamotten, mein Schlafsack, einfach alles ist komplett durchnässt. Zudem bin ich zwar frei, aber gleichzeitig bin ich auch allein. Ich weiss jetzt, dass ich vielleicht doch noch nicht so bereit bin, komplett allein auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Das Einzige, was ich wirklich möchte, ist einfach zurück nach Hause kommen zu dürfen. Bitte verzeih mir, dass ich so gemein zu dir war. Ich wusste nicht, dass ich eigentlich alles schon hatte, als ich noch bei dir wohnte. Darf ich zurück nach Hause kommen?
Liebe Grüsse, ich vermisse dich,
Sofie
Zufrieden blickte Sofie auf den Brief vor ihr, legte den Stift zur Seite und kramte einen Briefumschlag aus ihrem Rucksack. Vorsichtig schrieb sie die Adresse ihrer Mutter auf die Vorderseite des Umschlags und schob den Brief hinein. Behutsam klebte sie eine Briefmarke auf den Umschlag, ehe sie ihn voller Hoffnung auf eine positive Antwort beim nächsten Briefkasten einwarf.