Jorina: Hallo Werner, die letzten zwei Male hast du mir deine Musik gezeigt. Dabei hast du mir die klassische Musik nähergebracht und ich bin so in eine völlig neue Welt getaucht. Erkläre mir doch nochmals, wie das für dich war, als du damals mit 16 Jahren zum ersten Mal Bach gehört hast.
Werner: Ja, das war ein nachhaltiges Erlebnis. Ich war 14. Ich spielte mit meinen Brüdern in unserm Zimmer, als ich plötzlich von der Stube her Musik hörte. Ich war fasziniert, eilte hinaus und hörte zu. Es war das zweite Brandenburgische Konzert von J.S. Bach, das mit der Trompete. Seither hat mich Bach nicht mehr losgelassen, und es sind doch 67 Jahre her! Wir beide haben den ersten Satz zusammen gehört. Wie gefiel er dir?
Jorina: Das Stück, welches du mir gezeigt hast, war mir bisher noch unbekannt. Die trällernde Melodie und das Auf-und-ab der Streichinstrumente und Trompeten erinnerten mich an das Erwachen des Frühlings. Ich konnte hören, wie die Instrumente immer wieder solo begannen und dann langsam immer mehr wurden. – Ebenfalls hast du mir noch ältere Stücke aus der Gregorianik gezeigt. Der tiefe, einstimmige Männergesang ist taktvoll aufgebaut, die Präzision und das Timing haben mich beeindruckt.
Werner: Offenbar hast du einen gewissen Zugang zur klassischen Musik. Das ist ja nicht selbstverständlich. Ich denke, dass du KollegInnen hast, die mit dieser Musik nichts anfangen könnten. Hast du schon früh mit klassischer Musik Kontakt bekommen? Und was denkst du, wie ein ausgeprägter Metal-Fan auf meinen lieben J.S. Bach reagieren würde?
Jorina: Ich mag Musik in allen möglichen Genres und finde in jedem etwas, das mir gefällt. Die Offenheit gegenüber neuer und unbekannter Musik ist mir dabei wichtig; ich denke, genau das haben viele in meinem Alter eher weniger. Mit etwa 13 Jahren habe ich angefangen, ein wenig Klavier zu spielen. Dabei gefielen mir J.S Bachs Stücke immer am besten. Auch Metal-Fans könnten in deiner klassischen Welt ein Zuhause finden. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hast du mir ein weiteres Lied von Bach vorgespielt. Dazu hast du gesagt: «Bach schrieb am besten, wenn er traurig war.» Auch im Metal und allen anderen Genres der Musik finden deren Hörer wohl die Emotionen in einem Lied am packendsten. Findest du nicht?
Werner: Du beziehst dich da wohl auf Bachs Einleitung zum «Actus tragicus». Diese Musik geht bei mir sehr tief. Aber ich kann gut nachvollziehen, dass es bei der Musik, die du mir vorgespielt hast, auch so ist. Sehr eindrücklich erlebe ich es zum Beispiel, wenn Billie Eilish singt «I am so bored», weil sie eine unmögliche Liebe nicht weiterführen will. Oder wenn Kurt Cobain von Nirvana in «Territorial Pissings» in wilden Schreien die Not des Erwachsenwerdens und die Wut auf eine frauenfeindliche Welt herausschreit. Da fühle ich mit.
Jorina: Genau so ist es, Musik ist ein direkter Überträger der starken Emotionen und Gefühle. Dabei spielt es aber keine Rolle, aus welchem Jahrhundert diese Musik stammt, die Emotionen bleiben gleich stark. Da haben wir wohl eine Gemeinsamkeit entdeckt, obwohl unsere Musik so verschieden ist.
Werner: Schön, da können wir ja nun zu deiner Musik übergehen. Während dir die klassische Musik schon etwas vertraut war, erforderte es bei mir etwas Einfühlungsvermögen, um mich der Musik anzunähern, die du mir präsentiert hast. Einiges wurde mir bald einmal zugänglich. Vor allem, als ich begann, mich mit dem Text der Lieder zu befassen. Anderes blieb mir fremd, zum Beispiel Dylan Brady, das war mir allzu chaotisch.
Jorina: Oh ja, dieses Lied von Dylan Brady ist auch für mich sehr anspruchsvoll. Vor allem beim Sport höre ich solche Musik, welche einem einen gewissen Antrieb gibt. Ich habe dich ja wirklich kreuz und quer durch die Musik der Jugend geführt. Dabei gefällt auch mir nicht alles, was ich dir gezeigt habe. Trotzdem hast du zu einigen meiner Lieder sehr positiv reagiert und, wie du ja bereits erwähnt hast, sogar einen Draht gefunden. Welches ist dir da am nächsten gekommen?
Werner: Am nächsten stand mir wohl Kurt Cobain von Nirvana. Vielleicht nicht so erstaunlich, es ist ja schon um 1990 entstanden, also mir altersmässig näher. Der Ausdruck ist wild und oft auch chaotisch. Aber er drückt seine Not über das Erwachsenwerden und über die ungerechte Welt aus. Da kann ich mich einfühlen. Ich glaube, mich beeindruckt Musik, wenn sie in die Fragen des Lebens hinein führt. Musik, die vom Leben ablenken will, bedeutet mir wenig. Vermutlich erlag ich bisher einem Vorurteil, da ich die Musik der Jungen pauschal als Unterhaltung klassierte und nicht auf ihren Sinn hinterfragte.
Jorina: Ich kann gut nachvollziehen, dass man schnell so über die heutige Musik denkt – die Mehrheit der Jugendlichen-Musik ist mehr zu Unterhaltungszwecken da. Es gibt aber viele Ausnahmen dabei. Du hast mir davon erzählt, wie du miterlebt hast, wie die Beatles damals aufkamen. Wahrscheinlich haben da deine Eltern das Gleiche gedacht, nicht?
Werner: Ja, und nicht nur meine Eltern. Auch ich fand die Musik anfangs schrecklich. Und die langen Haare, ein wirklicher Volksschreck. Doch das lehrte mich. Was anfangs schräg wirkt, kann ein Klassiker werden. Heute finde ich die Beatles angenehm und sogar etwas brav. Wenn ich die Musik der Jungen weiterhin anhören werde, so nicht einmal in erster Linie wegen der Musik – da gefällt mir Klassik immer noch besser –, aber weil ich verstehen will, wie die Welt läuft. Und die Musik der Jungen sagt doch viel darüber aus. Die Jungen werden die Welt prägen. Was mich noch interessieren würde, ist Metal. Als ich etwas davon einmal hörte, fand ich es schrecklich. Aus der Metal-Szene haben wir beide noch nichts gehört. Und man sagt, es sei eine ganze Philosophie dahinter. Kannst du mir etwas davon schicken?
Jorina: Ich schicke dir das Lied «breaking the mirror» von «fit for a king». Tatsächlich liegt mehr im Metal, als man glaubt. In diesem Lied kannst du wieder eine emotionale Basis finden. Der Sänger schreit: «You’ll never break me.» Also: «Du wirst mich niemals zerstören.» Dabei spricht er davon, mit sich selbst zu kämpfen und wie er versucht, seinem Leiden und seinen selbstzerstörerischen Gedanken zu entfliehen.
Dieses «Schreien» nennt man gutturalen Gesang. Unter Sängern und Musikern haben Metalsänger einen hohen Status. Diese für deine Stimmbänder fiese Gesangstechnik ist sehr schwer zu erlernen und absolut anspruchsvoll. Nur die Wenigsten beherrschen sie richtig und können sie vor allem über mehrere Jahre lang benutzen, ohne einen Schaden an den Stimmbändern zu erleiden.
Werner: Ja, Jorina, etwas Besseres zu diesem Thema hättest du mir gar nicht schicken können. Die Musik ist geradezu unerträglich, wild, chaotisch, alles andere als schön. Dann hörte ich sie zusammen mit dem Text vor Augen, und gleich verstand ich. Der junge Mann, der mit krächzender Stimme sich losreissen will vom Spiegelbild seiner selbst, das ihn unfrei macht und bedroht. Aus allem, was ihn bremst, will er ausbrechen in seine Freiheit. Genau das bleibt mir als Resultat unseres Dialogs: Musik, erlebt als ein Mittel, den Menschen, seine Gefühle, seine Not, seine Liebe zu verstehen.
Jorina: Werner, ich bin froh, konnte ich dir meine Welt der Musik etwas näher bringen, und fühle mich ebenfalls sehr bereichert durch ein weit reichendes Wissen zur klassischen Musik. Das war eine tolle Reise durch diese zwei Welten, und ich würde das gerne weiterführen.